Legenden leben ewig, so sagt man. Und Totgesagte leben länger, auch das ist ein altes Sprichwort. Beides hat sich beim sechsten Lauf des UCI Mountain Bike World Cups 2015 in Windham, NY bewahrheitet. Missy Giove, die Femme Fatale des internationalen Downhill-Rennsports, ist aus dem roten Staub von Windham auferstanden. Hell yeah!

Wer kennt Missy nicht? Vermutlich viele Spätgeborene, die nicht seit 25 Jahren auf Mountainbiken und seine radikalste Form, den internationalen Downhill-Wahnsinn abfahren. Worldcup DH Racing bedeutet Biken am absoluten Limit, gegen die Uhr und ohne Rücksicht auf Verluste. Kein technischer Singletrail, sondern die Inkarnation des absolut Bösen. Ein Track, der für viele von uns unfahrbar erscheint oder einer Nahtoderfahrung gleichkommt.

Die Inkarnation des absolut Bösen: ein Track, der für viele unfahrbar erscheint.
Die Inkarnation des absolut Bösen: ein Track, der für viele unfahrbar erscheint.

Missys Ruhm und Ehre stammen aus der Pionierzeit des Downhill-Sports. Konkret hieß das: simple Fahrwerkstechnik, überforderte Bremsen und verdammt schmale Lenker. Die High-End-Technologien, auf die wir heute so blind vertrauen, steckten alle in den Kinderschuhen oder waren noch nicht erfunden. Katastrophales Materialversagen und brutale Unfälle gehörten zum Downhill wie der Knock-Out zum Boxen.

Huge risks: these are the ‘Big Boy’ features that make grown men and women quiver.
Volles Risiko: „Big Boy“-Features für alle, egal ob Frauen oder Männer.

„Pin it or bin it!“

Downhhill war regelmäßig ein Ritt auf Messers Schneide und nur für die Mutigsten eine attraktive Sportart. Und die junge Amerikanerin Missy Giove war darin über Jahre hinweg unschlagbar: In den 90ern dominierte sie die weibliche Rennszene in den USA. 14 Mal gewann sie allein die US-NORBA-Meisterschaften, niemand konnte ihr das Wasser reichen. Selbst viele männliche Racer mussten sich warm anziehen: Sie fuhr mitunter Bestzeiten ein, die für die Top 20 Elite Men gelangt hätten. Vor allem im internationalen Vergleich war Missy Giove extrem erfolgreich: Dreizehn Weltcup-Siege, zwei Worldcup-Gesamtsiege und der Weltmeistertitel 1994 in Vail (Colorado) krönten ihre sportliche Karriere.

She still counts as one of the most successful downhill riders of all time.
Eine der erfolgreichsten Downhill-Fahrerinnen aller Zeiten – bis heute.

„The Missile“ war bekannt für ihr gnadenloses Draufgängertum: „Pin it or bin it“, alles oder nichts. Entweder landete die New Yorkerin auf dem Podium oder im nächsten Krankenhaus. Ihr furchtloser, improvisiert wirkender Fahrstil brachte ihr viele Fans und Bewunderer ein – vollkommen „out of control“ oder „loose“, wie wir heute anerkennend sagen würden. Missy war der unangefochtene Star in einem Sport, der von harten Männern dominiert wurde. Tätowiert, mit vielen Piercings, wilden Haaren und vor allem einem eigenem Kopf: Bis heute nimmt sie kein Blatt vor den Mund und hat eine ganz eigene Denke. Der erste Rockstar unter den Downhillfahrern – „Punkrock“, wie sie selbst augenzwinkernd sagt.

Her unique personality made her a genuine breath of fresh air – the first downhill rockstar you could say.
Extravagante Persönlichkeit und erfrischend anders. Missy war der erste Rockstar unter den Downhillfahrern.
Family Reunion: Rob Warner and Missy Giove.
Family Reunion: Rob Warner und Missy Giove.

Nicht gerade das, was sich Sponsoren wie Volvo, Reebok oder Cannondale damals unter dem idealtypischen Vorzeigebild einer Topathletin vorstellten. Doch Missy war über Jahre erfolgreich und die Zuschauer liebten ihre extravagante Persönlichkeit. Sie war erfrischend anders, locker und meist bestens gelaunt. Es war die Zeit, als Downhill in den USA richtig groß wurde und die legendären NORBA-Rennen in Mammoth (Kalifornien) und anderswo frenetisch gefeiert wurden. Tausende Zuschauer, wilde Biker-Partys, Missy Giove und Shaun Palmer in ihrem Element: „the good old times of mountain biking!“

„Everybody’s Darling“: Missy is the old favourite on the DH World Cup scene once again.
„Everybody’s Darling“: Missy ist der alte und neue Star im DH-Worldcup-Zirkus.

‘Life is a bitch’

2003 beendete Missy ihre sportliche Karriere und geriet über die Jahre allmählich aus dem Fokus der Medien. Mit ihr verlor auch der Downhill-Sport in den USA an Popularität und was Missy in den Folgejahren durchlebte, kann man kurz gesagt mit „Life is a bitch“ umschreiben. Nachdem sie 2009 mit einer Menge Gras und ordentlich Bargeld erwischt wurde, setzte es erst eine Gefängnis- und dann eine langjährige Bewährungsstrafe. Teil der Auflagen war es, dass sie den Bundesstaat Virginia nicht verlassen konnte – und Downhillfahren ist hier nicht gerade ein Volkssport. Entscheidend ist aber, dass sie dem Sport nie ganz den Rücken gekehrt hat. Sie ist in den letzten zehn Jahren nur selten auf ihrem altersschwachen Foes unterwegs gewesen. Doch wo sie auftauchte, wusste jeder, wer die schnelle Frau mit der Reibeisenstimme ist.

Missy sees red, realizing she needs to restart her qualifying run.
Missy sieht rot: Unterbrechung und Neustart beim Qualifikationslauf.

Irgendwann braucht jeder eine zweite Chance – und Missy verdient sie mehr als jeder andere. Was diese Frau für den Bikesport geleistet hat, welche Vorreiterrolle sie in einer stark von Männern geprägten Extremsportart eingenommen hat, ist unerreicht. Ihr katzenhafter Fahrstil und ihr unbedingter Wille zum Sieg inspirieren bis heute junge Fahrerinnen und zeigen damals wie heute, dass Downhill nicht nur was für harte Kerle ist.

Du überlebst, wenn die Masse dich liebt

Die Aufregung war entsprechend groß, als Missy beim Pro GRT in Snowshoe, West Virginia vor einigen Wochen auftauchte. Auf einem stinknormalen Leihbike mischte sie wieder in der nationalen Pro-Klasse mit. Wie eh und je voll am Limit, aber mit einem Bike, das für derartige Extremeinsätze keineswegs gemacht war: Crash im Training, Crash beim Rennen. Kopfüber den Abhang hinab, Verletzung an der Hand, trotzdem wieder aufs Bike und das Finish vor Augen. Ihr erklärtes Ziel war es, noch einmal genügend UCI-Punkte zu bekommen, um beim Worldcup in Windham teilnehmen zu können. Über ihre Beweggründe wusste damals noch niemand etwas. Aber es sollte an diesem Tag einfach nicht sein, der Sturz und ein überdehnter Daumen vereitelten jegliche Aussichten auf ein gutes Ergebnis.

‘Fast and Furious’ at the Pro GRT 2015 race in Snowshoe.
‘Fast and Furious’ beim Pro GRT 2015 Rennen in Snowshoe
Battle wounds – despite the pains and the visible hand splint, Missy still took to the startline.
Battle wounds – trotz Schmerzen und Handschiene geht Missy an den Start.

Aber Missy wäre nicht „the Missile“, wenn sie leicht aufgeben würde. Kurz vor dem UCI-Rennen wurde doch noch ein Platz auf der US-Nationalliste für Windham frei. Aber der Verantwortliche sträubte sich, Missy zuzulassen. Er empfand die Grande Dame als nicht wettkampffähig, weil sie nicht ausreichend UCI-Punkte vorweisen konnte. Die Neuigkeit, dass Missy noch einmal gegen die Weltelite im Downhill antreten wollte, verbreitete sich dank guter Freunde und hunderter treuer Fans wie ein Lauffeuer über die ganze USA. Offene Bewunderung für ihren Heldenmut und amerikanischer Nationalstolz lösten ein Welle der Sympathie aus: Von der Ost- bis zur Westküste appellierte die US-Downhill-Szene an die UCI. Die Petition der Masse hatte unerwartet schnellen Erfolg: Man zeigte Einsicht und erlaubte der DH-Ikone den Zutritt zum vorerst wohl letzten Worldcup auf amerikanischem Boden.

Goodbye Windham, this was perhaps the final time that this small town in the Catskill Mountains would host a round of the UCI Mountain Bike World Cup.
Good bye Windham: Der kleine Ort in den Catskill Mountains richtet den UCI Mountainbike Worldcup vermutlich zum letzten Mal aus.

Würde sie die Qualifikation packen?

Dass sie es noch immer drauf hatte, wussten viele schon vor Windham. Wer sie in Snowshoe gesehen hatte, erkannte die alte Missy sofort. Nur war nicht klar, mit was sie fahren sollte. Denn nach wie vor besaß sie kein eigenes Bike, das den harten Bedingungen eines Worldcup-Kurses gewachsen gewesen wäre. Und hier bekam die Geschichte auch für Deutsche eine patriotische Note: Über Freeride-Superstar Cameron Zink erhielt sie drei Tage vor dem Rennen ein YT Industries TUES CF als Leihgabe. Der Direkthersteller stellte Missy ein perfekt ausgestattetes Wettkampfbike zur Verfügung. Gutes Marketing und einfach supercool!

Marketing well done! YT Industries and SRAM offer Missy the necessary support in Windham.
Marketing well done! YT Industries and SRAM unterstützen Missy in Windham.

Missys Liebe zu dem YT-Boliden war in Windham unverkennbar. Mit großen Augen stand sie vor dem TUES, ihre Begeisterung über das souveräne Fahrverhalten und die aggressive, slacke Geometrie des New-School-DHs kannte kaum Grenzen. Nach einigen Anpassungen am ersten Trainingstag (strafferes Setup an der RockShox BoXXer, Reifenwechsel) ließ die 42-Jährige es richtig krachen. Zwar blieb sich Missy treu und ging mehrfach hart zu Boden. Das Problem war aber eher die alte Verletzung: Sie konnte die rechte Hand kaum am Lenker halten – ein echtes Handicap. Trotzdem, sie trainierte mit der Weltelite der Frauen und sah gut und schnell dabei aus. Ihr Qualifikationslauf am Freitag sollte diesen Eindruck bestätigen: Platz 17 und damit berechtigt für das Rennen am nächsten Tag.

Missy on fire – training or racing, whatever the situation, this 42-year-old knows how to ride loose.
Missy on fire – egal ob Training oder Rennen, die 42-Jährige ist loose wie eh und je.

Race Day

Die Spannung vor dem großen Rennen am Samstag war enorm. Windham war gut besucht, es herrschte strahlendes Sommerwetter in Upstate New York. Aaron Gwin (USA) hatte gute Chancen, das Rennen auf heimischen Boden zu gewinnen. Missy würde starten und mit ihr viele junge amerikanische Nachwuchshoffnungen. Die Stimmung war super, tausende Zuschauer pilgerten entlang der Strecke, „red, white and blue“ wohin das Auge blickte: eine fette Worldcup-Party. Der extrem trockene Kurs wurde seit Tagen immer schwieriger. Hohe Staubfahnen standen über der Strecken. Rutschende Vorderräder, explodierende Anlieger und wilde Stürze der weltbesten Fahrer waren an der Tagesordnung.

Aaron Gwin dominates Windham 2015.
Aaron Gwin dominiert Windham 2015.
Windham 2015: ‘red, white and blue’ wherever you look.
Windham 2015: ‘Rot, Weiß und Blau’, wohin man auch blickt.

Gegen 13 Uhr startete die Elite der Damen. Missy hatte das frühe Training gestrichen, die Hand und nun auch der Ellenbogen schmerzten zu sehr. Doch jetzt war sie am Start: Ihr Run auf dem ausgebombten Worldcup-Track war furios und beängstigend zugleich. In der Speed-Trap war sie Drittschnellste. Dann kam der Crash, sie verlor wichtigen Speed und vor dem Roadgap auch noch den Kontakt zu den Pedalen. Missy sprang trotzdem: „Ich wusste, dass ich es kann! Das ist alles Kopfsache.“ Sie kam viel zu kurz, „casede“ böse und konnte nur mit Mühe ihr YT unter Kontrolle halten. Ein Aufschrei ging durch die Menge, doch sie blieb im Sattel: „Missy, Missy! U.S.A., U.S.A.!“ Kurz vor dem Ziel standen beachtliche Tables. Sie ging volles Risiko ein, im Deathgrip sprang sie die „Big Boy“-Features. Mit knapp 45 s Rückstand auf die Führende belegte sie Platz 16 an diesem historischen Tag.

No strings attached – Missy on her World Cup run in Windham.
No strings attached – Missy bei ihrem Worldcup-Lauf in Windham 2015.

Mit etwas Training und mehr Zeit, sich an ihr neues Bike zu gewöhnen, könnte Missy Giove auch mit 42 Jahren noch immer in den Top10 der Weltelite der Damen fahren. Ohne Frage: „The missile is back!“ „Mad respect“ auch vonseiten der aktuellen Worldcup-Elite: Sämtliche Fahrer begrüßten die lebende Legende mit offenen Armen. Auch die Zuschauer feierten sie wie zu alten Zeiten. Missy hat den Sport einst groß gemacht und das vergisst ihr hier niemand. Ehre, wem Ehre gebührt. Sie hat allen gezeigt, dass man Berge versetzen kann, wenn man an sich glaubt. Well done!

Mit einer Rachel Atherton, der vorzeitigen Weltcup-Siegerin 2015, wird sie wohl nicht mehr mithalten können. Aber das will sie auch gar nicht, es geht ihr nicht mehr um den Wettkampf und ums Gewinnen. Sie wollte es niemanden beweisen: nicht sich selbst und auch nicht der Welt. Die Motivation für Missys unerwartetes Comeback war tiefgründiger: „Ich wollte das Rennen für meine Frau fahren. Als sie Krebs bekam, hat sie sich gewünscht, mich noch einmal im Worldcup racen zu sehen. Deshalb wollte ich mitfahren … aus Liebe zu meiner Frau und aus Liebe zum Downhill-Sport.”
Missy will inspirieren, anderen Fahrern und ihren Zuschauern die Magie des Fahrens am Limit vermitteln: „Ich will Menschen dazu inspirieren, ihre Ängste zu überwinden. Wenn ich fahre, gebe ich wahnsinnig gerne 100 % für die Zuschauer. Das haben sie einfach verdient. Außerdem ist es nicht nur unterhaltsamer für die Zuschauer, wenn ich am Limit fahre – auch ich habe einfach eine bessere Zeit dabei.“ Sie hat das Racing auf diesem Level nach all den Jahren vermisst. Ihr zufolge ist es ein unvergleichlicher Thrill, einen beinharten Kurs zu fahren, der von hunderten Weltklassefahrern über Tage malträtiert wird. Unvergleichlich sind aber auch die Worldcup-Atmosphäre, der Zusammenhalt unter den Ridern und der Höllenspaß, den sie alle zusammen haben. Schließlich sind die Worldcup-Partys mit Missy einfach legendär …

„I did it outta love for my girl and love for the art of DH and mountain biking”
„Deshalb wollte ich mitfahren … aus Liebe zu meiner Frau und aus Liebe zum Downhill-Sport.”

Missy hat wieder Worldcup-Blut geleckt. Sie will mehr, ihr Traum wäre es, mit einem Team in der nächsten Saison nochmal anzugreifen. Sie hat jungen Fahrern viel zu geben: langjährige Race-Erfahrung, ihre kompromisslose Fahrtechnik und vor allem das Wissen über die Bedeutung von mentaler und psychologischer Stärke. „Mein Traum wäre es, anderen zu helfen, ihren Traum zu verwirklichen – damit die dann wiederum andere inspirieren können. Und beim Fahren die ganze Zeit an deren Hinterrad dranzubleiben auf Messers Schneide, weil es einfach mehr Spaß macht. Und ihnen dabei helfen, herauszufinden, zu was sie wirklich fähig sind. Im Leben geht es für mich darum, alles zu geben.“

Doch Missy braucht neue Sponsoren und den logistischen und organisatorischen Rückhalt eines Worldcup-Teams. Unterstützung kann sie derzeit dringend brauchen: Ihr Arbeitgeber hat sie vor Windham knallhart gefeuert. Eine Woche Urlaub, um ihrer schwerkranken Frau einen Herzenswunsch zu erfüllen, war für den ehemaligen Worldcup-Star nicht drin. Sie hat es trotzdem durchgezogen, auch mit Verletzungen und mit dem Wissen, ihren Job zu verlieren: „Das sind die besten Kriegsverletzungen, die ich je davongetragen habe. Und es war wahnsinnig befreiend, weil ich wusste: Ich hab alles auf eine Karte gesetzt. Ich werde das hinkriegen, das tue ich immer. Diesmal aber auf jeden Fall legal.“

Hopefully not the final finish line for Missy.
Hoffentlich nicht die letzte Ziellinie, die Missy überquert.

Text: Steffen Gronegger Bilder: Steffen Gronegger/Paul Busa


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