“29ers are gay!” – “Online bekomme ich aber 10% Rabatt!” – “Das Bike sieht aus wie ein Liteville, alles abgekupfert!” – “E-Mountainbikes sind scheiße!” – Diese und ähnliche Sprüche hört und liest man fast täglich in den Foren dieser Welt, wenn es um die neusten Trends und Entwicklungen der Bikeindustrie geht. Dabei vergisst man leicht, dass es sich hier um Kritik und Gejammer auf extrem hohem Niveau handelt. Denn wer es sich leisten kann, ein aktuelles Bike zu kaufen, muss über Zeit, Geld und oft auch ein ziemliches Technik-Faible verfügen – nicht gerade ein mitleiderweckender Status, wenn wir mal ehrlich sind.

Zeitgeist

Manchmal tut es gut, die eigene kleine Welt von außen zu betrachten. Dann sieht man deutlich: Wir sind verrückt! Verrückt nach Bikes, verrückt nach technischen Innovationen und verrückt nach den neuesten Trends. Pingelig und eitel stimmen wir Bekleidung, Komponenten und das Bike farblich aufeinander ab, Mädels bemalen sogar ihre Fingernägel passend zum Gesamtkonzept. . Wir schaffen es, stundenlang über Produkte fachzusimpeln, um am Ende zu merken: Den großen Unterschied auf dem Trail macht es dann doch nicht. Wir führen heiße Diskussionen über die neuste Technologie, über noch effizientere Fahrwerke, noch leichtere Komponenten und noch stabilere Bikes und haben dabei stets das große Ziel vor Augen: schneller, leichter, besser. Dennoch empören wir uns über scheinbar jede Neuerung, die auf den Markt kommt. Das fing an bei Federgabeln, ging weiter bei Scheibenbremsen und Fullies (kleine Erinnerung: vor weniger als zehn Jahren fragte man noch lauthals, ob Fullies überhaupt Sinn machen!). Dann gab es eine Diskussion über Teleskopsattelstützen und momentan ist das Thema E-Mountainbikes so einigen ein Dorn im Auge.

Dabei half jede dieser Entwicklungen den Bikern noch mehr, noch besser und noch sicherer zu fahren. Wer würde sich heute noch auf ein ineffizientes, schweres Stahlhardtail von den Zeiten vor Anbruch des Milleniums setzen wollen? Also was soll die Aufregung?

Wie viele fahren Lift oder Shutteln und empören sich gleichzeitig über E-Mountainbiker, die auch nur eines wollen: Spaß haben.

Time

Zeiten ändern sich. Und mit ihnen die bekannte Umgebung, althergebrachte Normen und Machtverhältnisse. Viele finden das tragisch und haben Angst davor, den vertrauten Hafen zu verlassen. Doch für einige birgt die Veränderung auch eine große Möglichkeit. Denn neue Zeiten bedeuten neue Chancen.

Das gilt unter anderem für Hersteller, Magazine und Biker. Das Internet hat eine neue Welt geschaffen, in der es einfacher als je zuvor ist, Träume zu teilen, Angebote zu vergleichen und die relevanten Zielgruppen zu erreichen. Eine unermessliche Fülle an Informationen ist in Sekundenschnelle verfügbar und vergleichbar. Und das verändert auch unsere Gewohnheiten und Ansprüche: Wir wollen News sofort lesen, Videos sofort schauen, Produktpreise direkt vergleichen und die Produkte nach Möglichkeit auch sofort kaufen. Aus einem kleinen Dorf wurde die weite Welt des Internets und sie ist überall verfügbar.

Die Königsaufgabe ist es nun, den Durchblick zu behalten und sich die Medien, Informationsquellen und Shops herauszupicken, die den eigenen Bedürfnisse gerecht werden, um sich nicht von der schieren Masse und Auswahl erschlagen zu lassen.

Beim Kauf ist leider der Preis für viele das entscheidende Kriterium. Und das wiederum hat ebenfalls seinen Preis: Dumpingpreise befrieden kurzzeitig die Gier, doch bringen mittelfristig viele Probleme mit sich. Bricht man alles auf den Preis und den unmittelbaren Nutzen herunter, so verliert man das aus dem Auge, worauf es eigentlich ankommt. Nicht das Besitzen, sondern das Funktionieren ist entscheidend. So kann ein falsch abgestimmtes Versenderbike teurer zu stehen kommen als ein regulär im Laden gekauftes Bikes mit günstigerer Ausstattung, aber besserer Abstimmung. Der Offline-Kauf ist aber ebenfalls noch lange kein Glückgarant: Schlechte Beratung findet man ebenso im Einzelhandel, weil man sich dort teilweise nicht genügend mit dem Kunden auseinandersetzt oder weil man sich dem Preiskampf im Onlinehandel einfach so geschlagen gibt.

So geben viele ihre Ideale auf, weil sie Angst haben, sie könnten dem Zeitgeist nicht mehr entsprechen, nicht mehr mit dem Puls der Zeit Schritt halten. Und der liegt bei manchen nunmal schon bei 180. Aber nur weil andere den Preiskampf ausrufen, heißt das nicht, dass man diesen Krieg ohne Rücksicht auf Verluste mit ausfechten muss.

Schließlich war die Kundschaft nie so bereit wie jetzt, mehr Geld für ein Bike, eine gute Zeit und echten Spaß auszugeben, Stichwort “Quality Time”. Man muss sich davon verabschieden, alles und jeden bedienen zu wollen. Denn die Spezialisten laufen den Generalisten den Markt ab. Was zählt, ist die beste Lösung. Und für viele zählen noch immer Service, Beratung und Qualität zu den Maximen.

Denn die Welt hat sich im Grunde genommen kaum verändert. Nur die Art und Weise, wie wir kommunizieren und interagieren, ist eine andere geworden. So bedarf es heute noch mehr als früher der Flexibilität, Mobilität und Internationalität. Der Markt ändert sich schneller als je zuvor. Und hier zeigt der Zeitgeist auch seine unbarmherzige Seite: Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen. Sich treu bleiben und sich ständig neu erfinden ─ so lautet die Devise. Oder seine eigene Nische finden.

So bringt die Bikeindustrie immer neue Trends hervor, oft schnelllebig, teilweise nachhaltig. Neuestes Beispiel: Fatbikes (jetzt übrigens auch in Carbon). Praktischer Nutzen: sehr gering. Potentielle Käuferschicht: klein. Coolness: interpretierbar. Doch man sollte erst urteilen, wenn man es tatsächlich ausprobiert hat ─ alles andere wäre ein bodenloses Vorurteil, wie man es nur allzu häufig in Kommentaren und Online-Foren lesen kann.

Fakt ist: Die Industrie ist enorm vielfältig. Schreitet man über die Eurobike, sieht man Hunderte von Marken, die um die Gunst der Käufer buhlen. Ein ständiger, omnipräsenter Druck, neue Innovationen zu schaffen, liegt in der Luft. Neu, neuer, am neuesten ─ irgendwie muss man sich ja von der Konkurrenz abheben. Sehr kurze Produktions- und Lebensdauerzyklen sind die Folge, welche die Bikes nicht nur unwirtschaftlicher für die Hersteller macht, sondern auch Probleme für den Einzelhandel und den Kunden darstellt. Wenn Verfügbarkeit, Amortisierungsphase und Saison nicht im Einklang stehen, kann der Plan auf Dauer nicht aufgehen.

Dennoch ist es beachtlich, dass die Bikeindustrie einen solch hohen Innovationsgrad besitzt. Ständig wird getüftelt und getestet und in vielen Details sieht man die Liebe, die Ingenieure weit entfernt von ökonomischer Rationalität in die Entwicklung stecken. Manches geht unter, manches wird zum wahren Erfolg. Fakt ist: Genau diese technischen Evolutionen und Revolutionen haben uns dorthin gebracht, wo wir heute sind. Nie waren Bikes leichter, besser und schneller. Und damit auch noch nie so vielseitig.

Und diese Vielseitigkeit entsprich genau dem, was der Geist der Zeit verlangt: Smart Simplicity. Der Erfolg von Spotify, Facebook und vielen Apps liegt darin, dass man auf Knopfdruck (sprich: auf sehr einfache Weise) genau das verfügbar hat, was man sich wünscht. Die sofortige Befriedung der eigenen Wünsche steht im Mittelpunkt solcher Phänomene. Die eierlegende Wollmilchsau ist auch im Bike-Segment technische Realität geworden. Heutige Enduro- oder Trailbikes erfüllen genau diesen Spagat zwischen Leichtigkeit und absoluter Allroundmöglichkeit. Die Popularität von SRAMs 1×11 Antrieb ist beispielsweise ein Resultat des Strebens nach mehr Einfachheit. Doch kann ein Produkt allein für eine Zeit stehen? Mit einem Wort: Nein. Doch ein Wort steht für mehr als ein Produkt: #Enduro.

Was ist er also, der Geist unserer Zeit?

Der Hashtag als solches ist mittlerweile zum Symbol einer neuen Ära geworden. Er ist Zeichen der Ordnung und Klassifizierung in den Weiten des World Wide Web, eines Mediums, das die Karten neu gemischt hat. Das ein Magazin wie das unsrige erst ermöglicht und gleich global gemacht hat: In zwei Jahren 25.000 iPad-Nutzer, 200.000 Facebook-Fans, 250.000 Leser pro Monat aus Deutschland, Europa, den USA und Asien.

Ihr gemeinsamer Nenner sind Bikes. Nein, eigentlich ist ihr gemeinsamer Nenner die Leidenschaft: Munter wie energisch liken, kommentieren und konsumieren unsere Leser die neusten technischen Produkte, die aufregendsten Reisen und Bikespots sowie Rennresultate ─ unabhängig von ihrer Herkunft, Sprache und Kaufkraft. Bikes verbinden die Welt! Egal ob 100mm-Trailrakete oder massives Bikeparkbike ─ sie alle verbinden die Leidenschaft und ein Lifestyle, den man am besten auf Englisch beschreibt: drink coffee, ride epic trails, have a barbecue, enjoy beer, repeat! Das alles natürlich mit Kumpels und viel Spaß, versteht sich. Klar, es gibt auch Rennen, es gibt auch Wettkämpfe ─ aber sind die meisten nicht eigentlich nur ein wirklich guter, weiterer Grund, epische Trails zu fahren?

#Enduro

Und da sind wir wieder bei #Enduro: Alles ist heute irgendwie Enduro. Es ist jedoch ein Trugschluss, dass Enduro Mountainbiken sei. Schließlich findet XC oder DH ebenso auf (speziellen) Mountainbikes statt. Fakt ist, dass Enduro einen neuen Stil und eine neue Philosophie verkörpert: Die Bikeindustrie möchte weg von dem Image der rasierten Lycra-XC Feilen oder halsbrecherischen DH Boliden. Statt Downhill-Stress oder XC-Leid geht es um Spaß, Action und Freundschaft auf dem Bike.

Denn wir sind überzeugt: Im nächsten Jahr sind große technische Fortschritte und ein grundlegender Imagewandel angesagt. Und wenn das noch nicht Zeitgeist ist, machen wir ihn eben selbst.

Dieser Text stammt aus ENDURO Ausgabe #012 – im Magazin gibt es noch viel mehr zu entdecken! Hier könnt ihr euch alle Ausgaben kostenlos laden!

Text: Robin Schmitt Illustrationen: Jannik Welz


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Über den Autor

Robin Schmitt

Robin ist einer der zwei Verlagsgründer und Visionär mit Macher-Genen. Während er jetzt – im strammen Arbeitsalltag – jede freie Sekunde auf dem Bike genießt, war er früher bei Enduro-Rennen und ein paar Downhill-Weltcups erfolgreich auf Sekundenjagd. Nebenbei praktiziert er Kung-Fu und Zen-Meditation, spielt Cello oder mit seinem Hund (der eigentlich seiner Freundin gehört!), bereist fremde Länder und testet noch immer zahlreiche Bikes selbst. Progressive Ideen, neue Projekte und große Herausforderungen – Robin liebt es, Potenziale zu entdecken und Trends auf den Grund zu gehen.