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Wenn dir vor vier Jahren jemand gesagt hätte, dass 27,5″-Laufräder den Mountainbikemarkt erobern würden – hättest du ihm geglaubt? Heute spielt 26″ bei aktuellen Bikes kaum noch eine Rolle. Am Markt relevant sind also 27,5″ (650b), 29″ und Fatbikes, die es in 26″ und 29″ Durchmesser und mit Reifenbreiten von 4-5″ gibt. Besonders in Nordamerika erfreuen sich Fatbikes großer Beliebtheit und haben sich als nicht zu unterschätzende Niesche etabliert. Doch diese vier größen sind anscheinend noch nicht genug! Vielleicht habt ihr schon Gerüchte um den neuen B+ Standard gehört. Was bringt er uns? Warum erst jetzt? Und das Wichtigste: Brauchen wir ihn wirklich?

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Despite the popularity, there is still confusion and uncertainty of the trend, why use such huge tires? where does one use it? do they float on water?
Fatbikes sind immernoch ein beliebtes Diskussionsthema – nicht jeder ist sich sicher, was er von den Monsterreifen halten soll. Und kann man damit eigentlich auf Wasser fahren?

Wie bei vielen neuen Trends, die zunächst in die Extreme gehen, gibt es auch bei Fatbikes einige signifikante Nachteile, die sie davon abhalten, “normale” Mountainbikes vollständig zu ersetzen. Neben dem erhöhten Rollwideerstand, einem trägeren Beschleunigungsverhalten und dem erhöhten Q-Faktor werden sie immer schwerer sein als konventionelle Mountainbikes. Das macht sie nicht nutzlos, dennoch ist ihr Einsatzbereich dadurch eingeschränkt.

Wir dürfen vorstellen: 650b+

WTB und Rocky Mountain haben bereits Bikekonzepte mit der neuen 650b+ Laufradgröße vorgestellt und auch die obligatorische Kritik und Abneigung gegen Neues gab es schon zu hören. Die Idee ist, eine Art goldene Mitte zwischen konventionellen MTB-Reifen und Fatbike-Reifen zu finden, die auf extra-breiten 27,5″-Felgen gefahren werden. Auf diese Weise soll man sowohl vom erhöhten Reifenvolumen als auch von mehr Stabilität gegen Wegknicken profitieren. Die typischen 650b+-Reifen sind 2,8″ – 3,25″ breit.

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Meinen ersten Kontakt mit den B+ Reifen hatte ich auf der diesjährigen Interbike. Am WTB Stand war ein Hardtail von Forty Four Bikes ausgestellt, das mit WTB Trailblazer-Reien auf Scraper-Felgen ausgestattet war. Andes als es bei einem Fatbike der Fall gewesen wäre, waren die dickeren Reifen nicht das Erste, das mir an dem Bike aufgefallen ist. Auf den ersten Blick war es schlichtweg ein schickes Bike, ein handgefertigter, mattschwarzer Rahmen mit hochwertigen Komponenten und goldenen Akzenten. Rein optisch fällt der neue B+ Standard also weniger auf, als Fatbikes – ein wichtiger Faktor für den Markterfolg, schließlich kauft das Auge mit!

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Ein weiterer, spannender Aspekt des B+-Konzepts ist, das die neuen Laufräder sich einfach in bestehende 29er-Bikes nachrüsten lassen. Wechselwillige 29er-Fahrer müssen also nur ein neuen Laufradsatz kaufen und kein ganzes Bike.

Lohnt also der Wechsel? Oder alles nur heiße Luft? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden und um mehr zur neuen Größe zu erfahren, haben wir uns zunächst mit Mark Slate, Vice President und Mitgründer von WTB, unterhalten.

ENDURO: Jedesmal wenn neue Standards eingeführt werden, gibt es große Diskussionen, so zum Beispiel bei den verschiedenen Laufradgrößen. Rechnet ihr bei der Einführung von 650b+ mit großem Widerstand?

MS: Trotz der seit Jahren etablierten 29″-Laufräder und 26″ als “originale” Größe bei Mountainbikes, konnten sich 27,5″ Laufräder schnell durchsetzen. Die neue B+-Reifen lassen sich in den meisten Fällen in ein 29er-Bike montieren und passen auch in 26″ Fatbikes. 27,5″ eignet sich für eine breitere Masse als 29″ und die B+-Reifen bieten zahlreiche Vorteile – ich bin also optimistisch!

ENDURO: Was sind denn die Vorteile der mittelbreiten und mittelgroßen B+-Laufräder, speziell im Vergleich zu Fatbikes oder einem 29ern?

MS: Ich bin gespannt, wie sich ein Fatbike mit 3×27,5″ Reifen statt eines 4×26″ Reifen fährt – sie haben nahezu den gleichen Durchmesser. Für Grip in losem Gelände ist der Durchmesser wichtiger als die Breite des Reifens. Ich selbst habe kein Fatbike. Ich lebe in Kalifornien nahe der Küste – hier in Marin Country schneit es fast nie.
Das extra Luftvolumen von Reifen in der Plus-Größe erhöht das Sicherheitsgefühl auf dem Trail enorm. 29+ Laufräder machen das Bike für meinen Geschmack dagegen zu lang. Außerdem speichern diese Riesenräder zu viel Rotationsenergie. Für meinen Einsatzzweck und meine Größe sind Reifen wie die WTB Trailblazer 2.8×27,5″ perfekt. Sie passen in mein 29er Bike und sorgen dort für ein etwas tieferes Innenlager und mehr Reifenfreiheit.

ENDURO: Für welche Art von Fahrern eignen sich dei 650b+ Laufräder am besten?

MS: Das meiste Marktpotential sehe ich bei Trailfahrern und Enduro-Racern, doch auch für klassische Backcountry-Touren sind die dickeren Reifen bestens geeignet. Egal ob man zuvor ein 26″ oder ein 29″-Bike fuhr, nahezu jeder kann von dem Plus-Format profitieren. Die größten Reifen im Angebot von WTB werden wohl 3.0×27,5″ haben – mehr macht in meinen Augen keinen Sinn. Doch wie immer lassen wir den Markt entscheiden!.

Vielseitigkeit – einer der Hauptgründe für den Enduro-Boom. Allgemein gesprochen freuen sich die meisten Käufer darüber, wenn ein Produkt vielseitig einsetzbar ist – solange man keine allzugroßen Kompromisse eingehen muss. Bei Endurobikes sorgen Technologien wie Vario-Sattelstützen, leichte Rahmen und High-Tech-Fahrwerke für diese Vielseitigkeit.

Mounted to a more conventional DT Swiss rim, The Trailblazer fits in a 27.5 Focus SAM.
Montiert auf einer DT Swiss FR 570-Felge mit 27,5 mm Innenweite, passt der WTB Trailblazer sogar in dieses 27,5″ Focus. SAM.

WTBs 650b+ Konzept ist recht einfach nachzurüsten. Verwendet man zum Beispiel die neuen Scraper-Felgen mit 45 mm Innenweite und die großvolumigeren Plus-Reifen, haben die im aufpumpten Zustand eine Breite von 71 mm und passen damit in fast jede 29er-Federgabel und viele existierende Rahmen. Wählt man eine schmalere Felge, passen die Reifen in (fast) jeden Rahmen und sogar 27,5″-Gabeln. Natürlich ist bereits abzusehen, dass es bald auch speziell für diesen Standard ausgelegte Bikes geben wird.

Focus SAM 650b+ (5 von 10)
Plenty of room for this tire on a 27.5" Pike.
Der Plus-Reifen passt locker in eine RockShox Pike

Im Vergleich zu Fatbikes reduzieren die neuen mittel-dicken Reifen zwar rotierende Masse und Rollwiderstand, bieten aber dennoch deutlich mehr Volumen als ein normaler Reifen. Ähnlich, wie sich 27,5″-Felgen durchsetzen konnten, weil 29er doch zu extrem für viele Fahrer sind, könnten sie also tatsächlich die goldene Mitte zwischen Fatbikes und konventioneller Bereifung sein. Dieses “Einpendeln” auf die Mitte ist bei vielen Entwicklungen zu beobachten – warum also auch nicht hier?

Stellt euch ein leichtes CrossCountry 29er vor, auf dem ihr den ganzen Sommer lang Rennen fahrt. Wenn der Winter vor der Tür steht – oder ihr einfach Lust habt – baut ihr in das Bike einfach 650b+ Laufräder ein und habt plötzlich ein deutlich potenteres Trailbike. Mehr Grip auf technischen Uphills, besseres Bügeln bergab. Klingt gut, oder? Oder wir bauen die Räder gleich in ein E-Mountainbike! Ein Witz? Nicht unbedingt!

Ruben and I talking about the future of mountain biking in the castle.
Ruben und ich diskutieren über die Zukunft von Laufrädern und Reifen

Beim Design & Innovation Award 2015 habe ich mich auch mit Ruben Torenbeek, Jury-Mitglied und Bike-Ingenieur bei SCOTT unterhalten. Das hatte er zu sagen:

Vergleicht man den Durchschnittsbiker von heute mit einem Durchschnittsbiker von vor 10-15 Jahren, sieht man auf der einen Seite einen klassischen CrossCountry-Fahrer und auf der anderen einen typischen Enduro-Piloten. Waren Bikes früher rein auf Geschwindigkeit und Performance optimiert, steht heute vor allem der Spaß-Aspekt im Vordergrund. Denn am Ende wollen wir ja nicht der Schnellste sein sondern vor allem Spaß haben. Die neuen B+ Reifen zielen genau darauf: Mehr Komfort und mehr Spaß!

Aber was ist mit den legendären 3.0″ Nokian Gazzaloddi, die es schon vor Jahren gab? Schließt sich hier ironischerweise nicht ein Kreis?

Heutige Reifen sind deutlich leichter und insgesamt fortschrittlicher als die Gazzaloddi. Auch Felgen sind heute deutlich breiter und leichter und Tubeless-Systeme sparen zusätzlich Gewicht. So ganz lässt sich das also nicht vergleichen.

Welche Entwicklungen brauchen wir noch, um die Vorteile der neuen Reifen voll auszunutzen?

Rahmen müssen auf die neuen Laufräder optimiert werden. Reifen müssen neu gedacht werden um die zusätzliche Auflagefläche perfekt zu nutzen ohne zu viel Rollwiderstand zu haben. Denn während man bei Fatbikes das etwas behäbigere Fahrverhalten akzeptiert, erwarten die Kunden bei der mittleren Größe volle Performance! Das gilt natürlich auch für Gewicht und Pannensicherheit.

Meiner Meinung nach gibt es speziell für E-Mountainbikes mit 650b+ Reifen sehr viel Potential. Der zusätzliche Rollwiderstand und das Mehrgewicht spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Die Vorteile bleiben natürlich bestehen. Bergauf hilft der Motor und bergab freut man sich über mehr Grip.

Man munkelt, dass fast jede größere Marke an Bikes und anderen 650b+ Produkten arbeitet – wir dürfen in den nächsten Jahren wohl ein großes Wachstum in diesem Segment sehen. Unter anderem haben Specialized, Scott und Rocky Mountain ihr Interesse am Thema Plus-Bikes bekundet.

Als Kunde kann es natürlich frustrierend sein: Gerade hat man auf den letzten neuen Standard umgerüstet, steht bereits der nächste in den Startlöchern. Die Vielzahl an Optionen ist verwirrend, vor allem wenn man sich auf ein Bike festlegen muss. Auch der Handel blickt mit gemischten Gefühlen auf die Thematik: Neue Entwicklungen lassen sich natürlich besser verkaufen und bewerben, doch bedeutet das auch gleichzeitig, dass andere Produkte auf einen Schlag “veraltet” sind und sich schlechter verkaufen.

Grund, in Panik zu verfallen, haben wir zum Glück nicht: Das Plus-Konzept ist größtenteils kompatibel mit bestehenden Bikes. Wer möchte kann damit experimentieren ohne gleich ein neues Bike kaufen zu müssen.

SCOTT Sports is hard at work developing what they refer to as 27PLUS
SCOTT arbeitet bereits an dem Projekt, dass sie 27PLUS nennen

Rene Krattinger – Produkt Manager bei SCOTT, auf die Frage, wer von neuen 650b+ Rädern profitieren kann

Fast jeder – außgenommen höchstens XC und Marathon-Racer! Vielleicht haben wir es hier mit einem echten Gamechanger zu tun! Eventuell ersetzt 27PLUS im Enduro-Segment sogar 29er – wir werden sehen!

Its hard to pick a line on this thing, but it doesn't matter, you just plow over everything!
Linien suchen war einmal: Fatbikes bügeln alles weg!

Wie für jedes Bike, gilt auch für “Plus”-Bikes: Sie sind sicher nicht optimal für alle Fahrer und jeden Untergrund. Wer vor allem auf wenig ruppigen, schnellen Strecken unterwegs ist, profitiert weniger von den dicken Reifen. Die Idee hinter den großvolumigen Reifen ist, den Spaßfaktor zu erhöhen und das Fahren in anspruchsvollem Gelände zu erleichtern. Auch werden einige Modelle sicher verstärkt auf den Abenteuer-Bereich zielen, wo sie mit mehr Komfort und Pannensicherheit punkten können. Das Rocky Mountain Sherpa, das auf dem Sea Otter Festival vorgestellt wurde, gehört zu dieser Art von Bike.

Expect to see more of these  type of bike.
Rocky Mountain Sherpa Konzeptbike auf dem Sea Otter Festival
Super wide rims are here to stay.
Breite Felgen bieten viele Vorteile

Wenn man also den ersten Schock, schon wieder eine neue Laufradgröße vor sich zu haben, überwunden hat, zeichnen sich in der Tat zahlreiche Vorteile des “Plus”-Konzepts ab. Vielleicht kann es sogar stellvertretend für einen Kurswechsel der ganzen Bikebranche stehen, hin zu einer Zukunft, in der Fahrspaß wichtiger ist, als geringes Gewicht und maximale Geschwindigkeit.

Wir freuen uns jedenfalls auf erste Tests mit dicken Reifen! Und ihr?

Text: Tyler Malcomson / Aaron Steinke Photos: Christoph Bayer, Daniel Dunn, Aaron Steinke


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Über den Autor

Aaron Steinke

Aaron war der erste Mitarbeiter unseres Unternehmens, hat es tatkräftig mit aufgebaut und dabei den Auftritt und die Ausrichtung unserer Magazine maßgeblich mitgeprägt. Seit Mitte 2020 verfolgt er eigene Projekte, berät und unterstützt uns aber weiterhin bei Marketing- und Technik-Themen. Viele Jahre lang konnte man Aaron vor allem auf spaßorientierten Enduro-Rennen finden, in letzter Zeit auch vermehrt auf dem Rennrad – es lebe die Freiheit auf zwei Rädern!