Nächstes Jahr fährt jeder Plus-Bikes! — Auch wenn man es nicht glauben kann oder will, sollte man diesen Artikel unbedingt lesen: Denn in dieser These steckt viel Wahrheit. Unsere ersten, exklusiven Tests in Südfrankreich haben gezeigt, dass Plus-Reifen entscheidende Vorteile für Tourenfahrer wie Racer bieten. Welche das sind und wo aktuell noch Herausforderungen liegen – das lest ihr hier!

In Südfrankreich fanden wir optimale Testbedingungen: von flowigen Jumptrails bis hin zu verblockten Abfahrten war alles geboten.
In Südfrankreich fanden wir optimale Testbedingungen: von flowigen Jumptrails bis hin zu verblockten Abfahrten war alles geboten.

Die theoretischen Vorteile der Plus-Reifen und diesen neuen Trend im Allgemeinen haben wir im ersten Teil dieser Serie bereits erläutert. Jetzt geht es die Performance auf dem Trail. Dazu haben wir mit einer Slow-Motion-Kamera aufwendig den Specialized 6Fattie-Reifen in 3.0“ gegen einen Referenz-Reifen, den Maxxis Minion DHF in 29 x 2.4“ gefilmt, um zusätzliche Fakten zum Fahrverhalten des Plus-Prototypen im Vergleich zu einem 29“-Reifen zu ermitteln.

Im direkten Vergleich testeten wir einen 29” gegen den 27.5+ Reifen von Specialized.
Im direkten Vergleich testeten wir einen 29” gegen den 27.5+ Reifen von Specialized.

Der Testaufbau / Der Testkandidat

Der von uns getestete Specialized Ground Control 6Fattie-Reifen befand sich zum Zeitpunkt des Tests noch in einem späten Prototypenstadium. Er besitzt die Maße 27.5 x 3.0“ und darf laut Herstellerangabe mit einem maximalen Druck von 1,5 bar gefahren werden. Wir testeten den Reifen auf Specialized Roval Traverse SL Fattie-Laufrädern in der 27.5“-Ausführung und einer Felgen-Innenbreite von 30 Millimetern mit verschiedenen Luftdrücken von 0,9 bis 1,2 bar (13 bis 17 PSI).

Das kleinstollige Profil des Ground Control ist sehr symmetrisch, flach und mit Lamellen durchzogen. Sein alternierendes Mittelprofil, die gut abgestützten Außenstollen und die kleinen Stollen dazwischen sorgen für ein flaches und lückenloses Gesamtprofil.
Eine Besonderheit des Reifendesigns ist die Tatsache, dass die Reifenmitte in Relation zu den Reifen-Profilflanken einen extrem großen Höhenunterschied aufweist. In Anbetracht des empfohlenen niedrigen Luftdrucks (0,9–1,1 bar) ist dies jedoch gar nicht überraschend, schließlich verformt sich ein großvolumiger Reifen mit geringem Luftdruck vollkommen anders als ein kleinvolumiger Reifen mit höherem Luftdruck. Und genau darin liegt ein großer Vorteil wie ihr im nachfolgenden Praxistest erfahrt.

Gut zu erkennen: Der deutlich rundere Aufbau und das flachere Profil des Plus-Reifens.
Gut zu erkennen: Der deutlich rundere Aufbau und das flachere Profil des Plus-Reifens.

Der Praxistest

Wir haben unserer Testeindrücke für euch in die verschiedenen Faktoren, die bei einem Reifen entscheidend sind, untergliedert. Für das Fahrgefühl eines Reifens ist am Ende dann immer das Zusammenspiel all dieser Faktoren maßgeblich.

Videovergleich

Traktion: Aufgrund der größeren Kontaktfläche zum Boden, die sich dank des geringen Luftdrucks extrem gut dem Untergrund anschmiegt, bietet der Reifen bei steilen Anstiegen sowie bei losen Untergründen deutlich mehr Traktion. Auch in Schräghängen oder hängenden Kurven bricht der Reifen – trotz seines kleinstolligen Profils – viel später als der 29″-Referenz-Reifen aus. In diesen Extremsituationen werden die Vorteile der größeren Kontaktfläche klar deutlich, die für ein großes Plus an Sicherheit und Souveränität sorgt. Doch nicht nur die größere Kontaktfläche ist von Vorteil: Die Tatsache, dass sich der Reifen dem Untergrund besser anschmiegt und kleinere Unebenheiten förmlich aufsaugt, bringt den Vorteil, dass der Reifen im ruppigen Gelände viel satter auf dem Boden klebt und entsprechend länger Traktion behält.

Erst mit dem 29” Modell, dann mit dem Prototypen. ENDURO Direktor Robin testet im direkten Vergleich.
Erst mit dem 29” Modell, dann mit dem Prototypen. ENDURO Direktor Robin testet im direkten Vergleich.

Präzision: Die Eigenschaft, dass sich der großvolumige Reifen so stark verformen kann, bringt jedoch auch Nachteile mit sich. Besonders auf schnellen, harten Untergründen merkt man, dass Lenkimpulse nicht mehr ganz so genau umgesetzt werden und die Führung des Profils eine geringere Rolle einnimmt, da der großvolumige Reifen insgesamt schwammig wird. Extrem merkt man den geringen Druck bei Kompressionen und Absprüngen, wo der Reifen zu walken anfängt und man neben Energie auch das Gefühl für den Untergrund verliert. Das ist auch der Grund, weshalb wir den Reifendruck schnell von anfänglichen 0,9 bar in 0,1-bar-Schritten auf 1,2 bar (bei einem Fahrergewicht von 75 kg) erhöhten. Diese 0,3 bar machten hier bereits einen großen Unterschied und führten zu einem deutlich präziseren Verhalten im Grenzbereich.

Bei starken Kompressionen knickt der breitere Reifen deutlich sicht- und spürbar weg. In wie weit eine breitere Felge hier Abhilfe schaffen kann, können wir nur vermuten.
Bei starken Kompressionen knickt der breitere Reifen deutlich sicht- und spürbar weg. In wie weit eine breitere Felge hier Abhilfe schaffen kann, können wir nur vermuten.

Wie bereits oben erwähnt, saugen die breiten Reifen kleine Unebenheiten in sich auf und werden so ein Teil des Fahrwerks des Bikes. Deshalb ist es im Namen der Präzision extrem wichtig, dass die Kombination aus Reifen(-druck) und Fahrwerkssetup harmoniert. Bei zu geringem Luftdruck würde sich bis zu einer bestimmten Schwelle zuerst der Reifen verformen (was die Präzision verringert) bevor das Fahrwerk seiner Funktion gerecht wird und die Belastungsspitzen aufnimmt. Bei unseren Tests waren 1,2 bar (17 psi) Luftdruck in den Reifen ausreichend, um die Balance mit dem Druckstufendämpfungs-Setting des Fahrwerks zu erreichen.

Eigendämpfung: Ein weiterer wichtiger Punkt ist, ob sich der Reifen bei High-Speed aufschaukelt und bei starken Schlägen zu springen anfängt (Gummiball-Effekt). Unsere ersten Tests hinterließen dahingehend einen positiven Eindruck. Im Uphill merkt man etwas mehr Schaukeln des großvolumigen Reifens. In der Abfahrt verhielt sich der Specialized-Reifen recht ruhig, lag satt auf der Strecke. In steinigem Gelände verlor er ein bisschen an Spurgenauigkeit. Die Eigendämpfung liegt aber insgesamt auf einem guten Niveau und sorgte dafür, dass der Reifen nicht zu springen anfing.

Grenzbereich: Generell hat das erhöhte Maß an Verformung des großvolumigen Reifens zur Folge, dass man weniger klares Feedback vom Untergrund erhält und man sich an den etwas undefinierten Grenzbereich gewöhnen muss. Dies ist keine negative Eigenschaft, da man in diesem Fall „undefiniert“ auch mit „gutmütig“ gleichsetzen kann. Letzten Endes entscheiden hier die Vorlieben des Fahrers. In der Praxis wird vielen Piloten dieser etwas undefinierte, aber gutmütige Grenzbereich besser gefallen als ein digitales „ON-OFF“-Verhalten, wie man es von einigen konventionellen Reifen her kennt.

Fotobeweis: auch der 29” Reifen knickt ein! Jedoch viel weniger als das breitere Modell.
Fotobeweis: auch der 29” Reifen knickt ein! Jedoch viel weniger als das breitere Modell.

Rollwiderstand: Wie bereits gesagt, schmiegt sich der Plus-Reifen im Gelände dem Untergrund extrem gut an und überrollt kleine wie größere Hindernisse mit deutlich geringerem Energieaufwand. Dies gilt vor allem für weiche und lose Untergründe. Auf harten Untergründen fühlte sich der konventionelle 29”-Reifen mit 1.6 bar (23 PSI) deutlich schneller an.

Gewicht und Handling: Mit rund 500 g Mehrgewicht zum 29”-Referenz-Laufrad (*DT Swiss XM 1501 Spline ONE und tubeless montierten Maxxis Minion DHF Reifen) und einem nur knapp 4 cm kleinerem Reifenumfang (27.5+: 230,3 cm / 29”: 234,2 cm) belegten die Fakten die Testergebnisse: Spritzigkeit und Agilität sind nicht die passendsten Attribute für die neuen 27.5+ Reifen.

Happy End?

Zu diesem Zeitpunkt ist es noch zu früh ein definitives Urteil zu fällen, da sich der Test-Reifen in einem Prototypenstatus befand und wir nicht Äpfel mit Birnen vergleichen wollen.
Die ersten Eindrücke zeigen jedoch, dass die neuen Plus-Reifen ein enormes Potential bieten. Doch Potential heißt in diesem Fall auch Herausforderungen:

Rahmenbedingungen: Bike-Designs müssen aufgrund der größeren Dimensionen angepasst oder sogar neu entwickelt werden. Auch die Maßstäbe und Parameter verschieben sich aufgrund der Charakteristiken von Plus-Reifen.

Für Handel und Kunden kann die Vielzahl an Optionen, Standards und Philosophien verwirrend, nervend und teuer werden. Sei es aufgrund der erhöhten Lagerhaltungskosten oder weil man eingesehen hat, dass man demnächst schon wieder ein neues Bike benötigt.

System Plus-Reifen: Um die Nachteile eines größeren Reifens zu verringern reicht es nicht, ihn einfach leichter zu machen. Im Gegenteil, hier geht es darum, wie man das leichter verformbare Volumen besser abstützt und stabilisiert. Eine breitere Felge ist hier sicher eine wirkungsvolle Komponente. Doch es bleiben Fragen: Wie stark wirkt sich die Felgenbreite auf die Fahrperformance eines Reifens genau aus? Wie stabil muss ein Laufrad für die großvolumigen Reifen sein, die mehr Traktion besitzen und auf die entsprechend höhere Kräfte wirken? Welche Breite ist wirklich sinnvoll und gibt es eventuell das perfekte Verhältnis von Felgen- und Reifenbreite? Hier machen sicherlich aufeinander abgestimmte Reifen-Laufrad-Systeme mehr Sinn als jemals zuvor.

Fetter Reifen, fette Felge – bei den neuen Plus-Größen scheint das Verhältnis zwischen Felgen- und Reifenbreite noch wichtiger zu sein.
Fetter Reifen, fette Felge – bei den neuen Plus-Größen scheint das Verhältnis zwischen Felgen- und Reifenbreite noch wichtiger zu sein.

Für wen eignen sich die Plus-Reifen? Aktuell bieten Plus-Reifen hauptsächlich Vorteile für Tourenbiker und weniger aggressive Fahrer, da sie alle von dem deutlichen Plus an Grip und Sicherheit profitieren. In wie weit sich Plus-Reifen für den Race-Einsatz eignen, werden die technischen Entwicklungen in naher Zukunft zeigen. Hier gilt es noch viele Parameter wie etwa das Walkverhalten, die Präzision, Beschleunigungswerte und Effizienz auf harten Untergründen zu optimieren. Zumal ein Plus-Reifen bei gleicher Pannensicherheit (die ist bei Racern ja enorm wichtig) recht schwer werden wird.

Ebenfalls bietet der Markt aktuell eine zu geringe Auswahl an Reifen 27.5+ für den Renneinsatz.

Mit Vollgas voraus! Wir sehen die neue Laufradgröße als eine echte weitere Revolution - wem sie nützt und wie sie der Handel annimmt  wird die Zukunft zeigen.
Mit Vollgas voraus! Wir sehen die neue Laufradgröße als eine echte weitere Revolution – wem sie nützt und wie sie der Handel annimmt wird die Zukunft zeigen.

Fazit: Plus-Reifen sind Realität und werden (auf den nächsten Messen) rasant kommen. Die ersten Eindrücke des Specialized 6Fattie 27.5+ sind sehr positiv und stellen für Tourenfahrer klare Vorteile dar. Nichtsdestotrotz bedürfen die neuen Plus-Reifen noch einiges an Entwicklungsarbeit, im Besonderen in Kombination mit Laufrad-Technologie, um aktuelle Nachteile weiter zu reduzieren.

Leider bedeutet dieser aktuelle Trend auch, dass Händler, Kunden und teils auch Hersteller verwirrt, verunsichert und verärgert werden. Wir glauben an die Vorteile dieses neuen Trends, aber nicht in der aktuellen Form.

„Totgeglaubte leben länger“ – was das bedeuten soll, berichten wir euch nächste Woche.

Text: Robin Schmitt | Fotos: Christoph Bayer


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Über den Autor

Robin Schmitt

Robin ist einer der zwei Verlagsgründer und Visionär mit Macher-Genen. Während er jetzt – im strammen Arbeitsalltag – jede freie Sekunde auf dem Bike genießt, war er früher bei Enduro-Rennen und ein paar Downhill-Weltcups erfolgreich auf Sekundenjagd. Nebenbei praktiziert er Kung-Fu und Zen-Meditation, spielt Cello oder mit seinem Hund (der eigentlich seiner Freundin gehört!), bereist fremde Länder und testet noch immer zahlreiche Bikes selbst. Progressive Ideen, neue Projekte und große Herausforderungen – Robin liebt es, Potenziale zu entdecken und Trends auf den Grund zu gehen.