Rio de Janeiros Glaube ist 38 Meter hoch und 1.145 Tonnen schwer – Cristo Redentor. Dass auf der linken Seite der ikonenhaften Christenstatue Trails abgehen, daran glaubt keiner.

PENG PENG PENG

Ich bin schweißgebadet, zittere. Kann den Lenker nicht mehr festhalten. Waren das gerade MG-Schüsse, die durch das Armenviertel gehallt haben? Ich steige ab. Stelle mich in den Schatten der bunten Fassaden. Muss mich fast übergeben. Schwer zu glauben, dass ich gerade ein XC-Rennen fahre. Die staubige Luft riecht verbrannt und liegt wie ein Schleier auf der nassen Haut. Pedro von pedal.br lehnt über seinem Vorderrad und schaut nicht einmal auf: „Die Schüsse sind im benachbarten Slum gefallen. Don’t worry, Bro.“

Welcome to Rio...
Willkommen in Rio…
The city is full of diverse cultures.
Die Stadt ist voller vielfältiger Kulturen.
The beach marks the perfect start and finish to a ride.
Der Strand ist der ideale Ausgangs- und Endpunkt für eine Ausfahrt.

Wir stehen auf dem Morro Turano, dem Berg, der einem der 750 Slums von Rio de Janeiro Schatten spendet. Hier, wo für gewöhnlich Schuhe poliert und gebrannte CDs verkauft werden, finden jährlich XC- und Downhillrennen statt und wir sind auf einem davon. Über 100 Teilnehmer in 7 Kategorien. Events zur Integration der Favelas. Flatterband, Streckenposten? Fehlanzeige! Hier kreuzen Kinder barfuß die Strecke. Pulsierender Samba-Sound vermischt sich mit stickigem BBQ-Geruch. Starke Jungs auf knatternden Mopeds tauschen böse Blicke aus. Hier bleibt es heute ruhig.

„Kennt ihr diese Jackass-Szene, in der Johnny Knoxville in der Savanne mit einem Fleischumhang bekleidet vor Löwen flüchtet? Mein Bike ist der Fleischumhang, die Gefahr in den Straßen Rios der Löwe.“

The views are unreal every where you look.
Wo man nur hinschaut – der Ausblick ist überwältigend.
The Favelas are full of life. Not just people!
Die Favelas sind nicht nur voller Menschen sondern auch voller Leben!

Das sind also die neuen Dinge, die ich für Ausgabe #018 erleben soll. In meinem Alltag als ENDURO-Grafiker hatte ich bisher noch relativ wenig mit Schusswaffen zu tun, eher gar nichts. Doch dass ich auf solche Situationen gefasst sein sollte, darauf hat man mich bereits in Deutschland hingewiesen. Denn Rio kommt ohne die Erwähnung dieser berüchtigten Momente nicht aus. Erst vor einer Woche haben schwer bewaffnete Männer zehn Mountainbiker überfallen. Jeder kennt diese Geschichten hier. Die Polizei ist machtlos. Es gäbe genug Alternativen außerhalb der Stadt, außerhalb der Gefahrenzone. Doch die Biker der zweitgrößten Stadt Brasiliens scheinen ein Geheimnis zu hüten. Wir mussten nicht lange danach suchen und haben es zu den Füßen Cristo Redentors gefunden.

The only way is up!
Der einzige Weg führt hoch!
Which is soon rewarded with amazing riding!
Doch der Anstieg wird bald mit wahnsinnigen Trails belohnt!

Auf der Suche nach der Natur

Der Schweiß brennt in den Augen. Konturen verschwimmen. Das Thermometer zeigt 39 °C. Der Teer absorbiert die Hitze. Ich fühle mich wie in einem Umluftofen. Es geht im Wiegetritt die Serpentinen hoch. Unsere Bikes pendeln von links nach rechts. Slums erklimmen mit uns die Berge und vermischen sich mit Tijuca-Wäldern. Auf der Bergspitze rechts breitet Cristo triumphierend seine Arme aus, links der Atlantik. Kinder aus den Slums lassen Pipas durch den Horizont schneiden, kleine Drachen, gebaut aus Einkaufstüten, die den Himmel zu ihrer Arena machen. Eine hupende Blechlawine aus Motorrädern, Minibussen und Autos rollt restlos durch die Korridore der Stadt. Ein One-Night-Stand für mich, der Alltag für 7 Mio.Cariocas, so nennen sich die Bewohner dieser Stadt.

Under the jungle canopy.
Unter dem Dach des Regenwaldes.
Are we still in Rio or did we take a wrong turn and end up in a rainforest?
Sind wir noch in Rio oder haben wir den falschen Abzweig genommen und sind im Regenwald gelandet?

Endlich holt uns die Stille aus dem Wald Meter für Meter ab. Die Luft riecht frisch. Aus dem Nichts erscheint am rechten Wegesrand ein Pfad. Das muss er sein. Ein Teil des Geheimnisses. Wir ziehen die Knie-Protektoren hoch und trinken einen letzten Schluck vom lauwarmen Wasser – dann geht es los. Was folgt, lässt meine Augen vor Euphorie glänzen. Mir fehlt jegliche Wortakrobatik, um diesen Trail samt Aussicht zu beschreiben. Ich bekomme Krämpfe – im Gesicht, vom anhaltenden Grinsen. Sind wir noch in Rio oder schon im Regenwald? Zumindest hat Strava unsere Koordinaten längst verloren. Man hört nur noch das Rasseln der Kette. Die Stollen suchen Halt auf nassen Querwurzeln. Die Bremsen quietschen. Feuchte Palmenblätter peitschen in unser Gesicht. Der Trail katapultiert uns nach ca. 3 min zurück in die Zivilisation. Wir weichen Müll aus, ziehen Manuals, springen Treppen, landen zwischen Hunden und Ziegen. Sie werden gerade von nackten Kindern mit Steinen beworfen. Rechts werden aus einem Minibus Bananen entladen. High Five.

The network of under cover trails were amazing.
Das Netzwerk an versteckten Trails ist unglaublich.
Weaving through the trees at warp speed, so much fun.
Durch den dichten Wald in Warp Geschwindigkeit – Spaß pur.

Oben Trails, unten Meer. From Top to Bottom.

Fast alle der illegalen Trails verlieren sich letztendlich im Sand der unzähligen Strände: Copacabana, Ipanema, Ilha Tartaruga. „Immer Richtung Meer“ ist nicht selten die Antwort, fragt man einen Local nach dem Weg. Keiner lässt hier seine Hose an. Jeder ergibt sich den tosenden Wellen. Keine Abkühlung, eher ein Aufguss. An der Promenade ziehen Kids Wheelies. Polizisten zeigen Touristen ihre besten Klimmzüge. Models laufen gegen das letzte Gramm Fett an. Yogis verabschieden die Sonne. Fußball spielen sie selbstverständlich alle, meist barfuß. Egal ob auf Teer, Rasen oder Sand. Egal ob in Jeans, Shorts oder im Bikini. Fußball ist hier nicht nur ein Grundrecht, es ist die Sprache der Stadt.

Shuttles made life a lot easier in the humid heat!
Shuttle erleichtern das Leben ungemein in dieser schwülen Hitze!
Does it get much better?
Geht es noch besser?

Die für den MTB-Tourismus recht unbekannte Stadt zieht ihren Joker in Sachen urbane Möglichkeiten. Hier bestimmt das Wetter den Pulsschlag der Stadt, Rio brodelt in der Nacht noch immer von der Hitze, die tagsüber herrscht. Es gibt keine Uhrzeit, zu der die Leute nicht feiern, die Autos nicht hupen, die Surfer nicht surfen.
Auch Rios Biker treffen sich zum Afterride-Bier in Bars, um sich selbst und dem gelungenen Tag zuzuprosten. Man übertrumpft sich selbst mit Storys und streift durch Fotobeweise auf Smartphones. Auch hier diskutieren sie Laufradgrößen, Federelemente und frei erfundene Trailerlebnisse. Einer von ihnen ist Tomy. Seit 9 Jahren zieht die Stadt den stämmigen Finnen mit rundem Gesicht und blonden Haaren immer wieder magisch an. „Trails, Strände, Nachtleben. Ich liebe diesen Ort, er ist das Paradies, Mann!“, lacht er und nippt an seinem achten Bier. Tomy hat hier auch seine Frau kennengelernt, eine echte Garota Ipanema – so nennen die Einheimischen ihre 90-60-90-Strandwunder, die es natürlich nur hier in Rio gibt.

Descending to the waves.
Die Abfahrt in Richtung Wellen.
Perfect opportunity to cool off!
Die perfekte Gelegenheit für eine Abkühlung!

Es sind nicht nur die Strandschönheiten, das Wetter oder die frisch geschlagenen Kokosnüsse. Das Geheimnis Rios liegt zwischen perfekten Anliegern und dem Horizont. Den wilden Wurzelpassagen und flowigen Steindrops. Den malerischen Panoramen und der feuchten Erde. Es sind die Affen, Lianen und Kolibris, denen du ausweichst. Biken in Rio heißt Biken im Regenwald.

Railing from dawn till dusk!
Railing from dawn till dusk!
The perfect ending to a great day.
The perfect ending to a great day.

Der heilige Ort der Brasilianer ist ein Schweizer Taschenmesser: Er hat alles, was du brauchst – selbst Gottes Segen.

Words: Julian Lemme Photos: Eduardo Biermann


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