Wir fahren durch ein altes Steintor und unter einem dichten Blätterdach eine schmale, kurvenreiche Straße hinab und fragen uns, ob wir irgendetwas falsch verstanden haben. Unser Navi hat uns auf der langen Reise schon einige Male in die Irre geführt. In dieser Umgebung würde man eher das Versteck eines Bond-Bösewichts erwarten, aber definitiv nicht den Firmensitz von Atherton Bikes.

Endlich lichten sich die Bäume und die Straße endet in der Mitte eines kleinen Gewerbeparks, der in die Wyastone Woods eingebettet ist: Ein altes Rotwild-Jagdgebiet tief in der Grafschaft Herefordshire und nur einen Steinwurf von Süd-Wales entfernt. Auf der Rückseite des nächstgelegenen Gebäudes führt eine schmale Treppe hinunter zu einer Tür mit einem winzigen Atherton Bikes-Sticker neben der Klingel. Wir haben es also doch noch geschafft, den richtigen Ort zu finden. Mit einem Seufzer der Erleichterung drücken wir die Türklingel.

Die Athertons sind in der Mountainbike-Szene jedem ein Begriff, doch die Ankündigung, dass sie mit Atherton Bikes ihre eigene Marke starten, kam zu Beginn dieses Jahres doch relativ unerwartet. Damals waren die Details noch rar, doch wir wussten zumindest, dass sie einen besonderen Fertigungsprozess nutzen, um ihre eigenen Bikes zu bauen. Dabei sind die Athertons nicht die ersten, die sich der revolutionären Konstruktionsmethode bedienen. Um genau zu sein, machen sie dort weiter, wo die Firma Robot Bike Co. aufgehört hat. Dabei wollen sie ihr Know-how aus vielen Jahren Bike-Racings einbringen, um den Fertigungsprozess massentauglich zu machen. Bisher sah man nämlich nur wenig Robot-Bikes auf den Trails.

An der Tür erwartet uns ein bekanntes Gesicht. Dan Brown, besser bekannt als Brownie, ist der Leiter von Atherton Bikes und bittet uns mit einem Grinsen hinein. „Ihr habt also die richtige Tür gefunden?“ fragt er verschmitzt. „Nebenan werden Weihnachtspullover hergestellt. Sowas nennt man wohl ein Saisongeschäft.“ Schmunzelnd betreten wir die Räumlichkeiten, wo wir Zeuge von etwas werden sollten, das nur die wenigsten bisher gesehen haben!

Direkt hinter der Tür empfängt uns ein kleiner, lichtdurchfluteter Raum. In dessen Mitte hängt eine ominöse große Spannvorrichtung für Metallrahmen an einem robust aussehenden Ständer, bereit für die Erschaffung des nächsten Atherton-Rahmens. Auf der rechten Seite des Raumes steht eine Werkbank. Darauf ausgebreitet liegen wie eine Auswahl chirurgischen Bestecks markante Metallteile – maßangefertigte 3D-gedruckte Titan-Muffen, die das Herz der einzigartigen Technologie von Atherton Bikes bilden. Die Muffen vor uns werden später an einem neuen Atherton Bikes A150 29er-Rahmen verbaut werden, genau vor unseren Augen.

Hergestellt werden sie von Renishaw Engineering, einem spezialisierten Maschinenbaubetrieb, der für gewöhnlich eher im Bereich der Luft- und Raumfahrt sowie der Formel 1. Ganze 16 Stunden und 3.500 Schichten an Titanpulver werden benötigt, um einen Satz Muffen für einen einzelnen Rahmen zu erzeugen. Das Titanpulver wird gesintert, also quasi geschmolzen, und dann von Hochleistungs-Lasern verschweißt, Schicht für Schicht, bis die Muffen fertig zusammengesetzt sind.

Diese einzigartige Technik bringt zwei klare Vorteile mit sich. Zum einem – und als allerwichtigstes Merkmal – verleiht sie Atherton Bikes die Fähigkeit, kundenspezifische Geometrien zu gestalten. Mit einfachen Worten: Das CAD-Modell der Muffen lässt sich automatisch anpassen, wenn es mit kundenspezifischen Geometrie-Daten gefüttert wird, und die Titanmuffen können dann gezielt für diesen Aufbau gefertigt werden. Zweitens erlaubt es diese Technik, die Form der Muffen in Hinblick auf maximale Festigkeit zu optimieren, da ihre Form nicht durch traditionellen Fertigungsmethoden eingeschränkt ist.

Das bedeutet, dass Atherton Bikes ein Bike anbieten kann, das speziell für den Kunden, entworfen wird. Der Kunde kann dabei zwischen einer Geometrie, die von einem Online-Konfigurator anhand seiner wesentlichen Maße (Größe, Spannweite der Arme und Schrittlänge) erstellt wird, wählen oder aber telefonisch eine hundertprozentige Maßanfertigung vereinbaren. Atherton Bikes verlangt nur einen moderaten Aufpreis, wenn man zur Custom-Geometrie greift.

Das ist das wirklich Schöne an dem Fertigungsverfahren – die Flexibilität und relative Einfachheit, mit der kundenspezifische Geometrien realisiert werden können. Wenn man den Weg der vollständigen Maßanfertigung lieber nicht gehen will, dann hilft ein Online-Konfigurator, der von den Athertons entwickelt und abgestimmt wurde. Es ist klar, dass alle Bikes über eine moderne und potente Geometrie verfügen. Obwohl die Preisgestaltung bis zu unserem Besuch noch nicht final abgeschlossen ist, sollen laut Artherton die Rahmen gegenüber den anderen großen Marken, die High End Carbon-Rahmen anbieten, konkurrenzfähig sein.

Zurück zur Fertigung: Wie gesagt, werden die Muffen bei Renishaw gedruckt, ehe sie wärmebehandelt und mit Tretlager-Gewinden ausgestattet werden. Weiter geht es mit der Bearbeitung der Oberflächen, wie z. B. die Lagersitze. Zum Schluss werden die Muffen für die Montage zur Werkstatt gebracht.

Der Prozess der Montage ist in mehrere Abschnitte aufgeteilt. Zuerst werden die individuellen Muffen akribisch gereinigt, um jegliche Rückstände oder Verunreinigungen zu entfernen. Dies stellt sicher, dass die Oberflächen ordnungsgemäß vorbereitet sind, um eine dauerhafte Verbindung mit den Carbon-Rohren des Rahmens zu bilden. Den nächsten Schritt bildet das Zuschneiden der Carbon-Rohre des Rahmens auf die gewünschte Länge. Der Rohrsatz vor uns wird für das neue Bike von Atherton Racing-Fahrer Charlie Hattons vorbereitet. Das Team verwendet speziell konstruierte Rohre aus unidirektionalen, vorimprägnierten Carbon-Fasern. Wir erfahren, dass zwei verschiedene Carbon-Typen an unterschiedlichen tragenden Flächen des Rahmens verwendet werden, um Steifigkeit bzw. Flex genau dort bereitzustellen, wo sie benötigt werden.

Sobald die Muffen gereinigt sind und das Carbon zugeschnitten ist, beginnt die Montage des Rahmens. „Man muss ihn von unten nach oben aufbauen“, erklärt uns Rob. „Die Rohre passen nur in die Titanmuffen, wenn sie auf diese Weise zusammengefügt werden. Am Anfang ist das Ganze ein wenig knifflig, aber irgendwann hat man den Dreh raus.“ Stück für Stück wird ein neuer Rahmen geboren. Es ist atemberaubend, mit anzusehen, wie zahlreiche Titan- und Carbon-Teile harmonisch zusammengefügt werden und einen Rahmen hervorbringen. Als würde man ein komplexes Puzzle betrachten, das sich zusammenfügt!

Jeder Rahmen wird zunächst in einem Probelauf zusammengesetzt (ohne Klebstoff) und alle Abmessungen und Winkel werden mit der Gravur in der Grundplatte verglichen. Wenn alles zusammenpasst, wird es Zeit für das Verkleben. Dieser Prozess ist entscheidend – sobald man einmal begonnen hat, muss man das Ganze durchziehen und innerhalb der Verarbeitungszeit des Klebstoffes beenden. Diese Aufgabe bis zur Fertigstellung dauert einige Stunden, doch sobald der kritische Schritt abgeschlossen ist, braucht es lediglich noch eine Aushärtezeit von 4–5 Tagen, bevor der Rahmen bereit für die Trails ist.

Der nächste Punkt auf unserer Agenda lautet: Zwei Komplett-Bikes begutachten – und natürlich auch fahren! Brownie teilt uns mit, dass wir die beiden Trail-Bikes A150 mit 29“-Reifen und A160 mit 27,5”-Bereifung fahren werden. Bei beiden handelt es sich um Prototypen: Das Team experimentiert noch mit Versteifungen der Kettenstreben und der endgültigen Formgebung einiger anderer kleiner Details. Glücklicherweise gibt es nur wenige Orte, die zum Testen und die Entwicklung so gut geeignet sind, wie der familieneigene Bikepark der Athertons.

Ein paar Autostunden entfernt von Wyastone, entlang wunderschöner Landstraßen und über diverse Bergücken, liegt der Dyfi Bike Park. Wir halten auf einem Waldparkplatz neben einem monströsen schwarzen Land Rover an, der sich hoch über unseren Kombi auftürmt. Dan Atherton (der älteste der Atherton-Geschwister und Gestalter des Dyfi Bike Park) springt aus dem Land Rover und begrüßt uns mit einem strammen Händedruck. „Welcome to Dyfi!“

Ein weiterer Land Rover mit montiertem Anhänger schlägt neben uns auf. Auf diesem stehen vier unverkennbare Bikes. „Bereit für ein paar Laps?“ fragt uns Dan und hüpft auf den Anhänger. Nach ein paar Runden ist klar, wie dieser Ort dabei geholfen hat, die Bikes zu formen, mit denen wir unterwegs sind. Die Trails sind ruppig, technisch und schnell – und diese Bikes erlauben eine derart nervenaufreibende Geschwindigkeit, wie wir sie nicht oft erleben. Die Geometrie ist potent und ausgewogen. Das Fahrwerk fühlt sich satt an, wird gegen Ende des Federwegs jedoch zunehmend progressiver, was die Bikes auch kompatibel für Stahlfederdämpfer macht. Die leicht nach hinten gerichtete Raderhebungskurve von Dave Weagles DW6-Link verleiht beiden Bikes einen fantastischen Speed in ruppigeren Passagen, da die Hinterräder gefühlt Hindernissen nach hinten ausweichen. Das bewahrt die Bikes davor, bei kantigen Schlägen „hängenzubleiben“.

Eine Handvoll Testrunden sind natürlich nicht genug für ein abschließendes Fazit, doch schon mit dem ersten Eindruck ist klar, dass Atherton Bikes keine halben Sachen machen – diese Maschinen sind schnell und potent. Leider durften wir kein Bike für einen ausführlicheren Test mit nach Hause nehmen, solange sie noch nicht serienreif sind. Doch ihr könnt euch absolut sicher sein, dass wir bei der erstbesten Gelegenheit Testrunden mit den Bikes absolvieren werden – wir können es kaum erwarten!

Während sich der temporeiche Tag seinem Ende neigt, haben wir endlich die Chance, ein wenig zu reflektieren, was wir in den letzten 12 Stunden erlebt haben. Ist additive Fertigung die Zukunft? Die Fähigkeit, Bikes auf Bestellung anzufertigen, anstelle gigantische Ladungen aus Übersee einzuschiffen, ist mit Sicherheit ein großer Schritt in die richtige Richtung, wenn es um Nachhaltigkeit geht – und die maßgeschneiderte Geometrie-Option dürfte für eine ganze Menge leidenschaftlicher Fahrer attraktiv sein. Die Zeit wird zeigen, ob die Athertons es schaffen, sich mit ihrer Marke zu etablieren, und wir sind jetzt schon gespannt, womit sie uns als nächstes überraschen.

Mehr Informationen zu Atheron Bikes findet ihr unter athertonbikes.com


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