Manche Erfindungen verändern die Art, wie wir Mountainbiken, für immer. Laut Canyon soll das neue K.I.S.-System auf Lenkdynamik – und auch die Zukunft des Mountainbikens – einen riesigen Einfluss haben. Doch was ist es? Wie funktioniert es? Und vor allem: Kann es halten, was es verspricht?

K.I.S. steht für Keep It Stable und ist eine Erfindung von Syntace, einem deutschen Komponentenhersteller, der sich nicht scheut, neue Ideen und Ansätze zu realisieren. Integriert ist das System bis jetzt in das Canyon Spectral CF 8 und das Liteville 301 E-Mountainbike. Bei dem K.I.S.-System ist eine Spiralfeder am Gabelschaft und dem Oberrohr angebracht, sodass sie beim Einlenken gespannt wird. Laut Canyon bringt das eine ganze Reihe an Vorteilen: Die Fahrstabilität des Bikes soll sich verbessern – sowohl auf der Geraden als auch in Kurven – und Untersteuern soll verringert werden. Zusätzlich verspricht das System, dass man auf langen Abfahrten langsamer ermüdet. Laut Canyon soll dieses System einen ähnlich großen Einfluss auf Mountainbiken haben wie die Einführung der Dropperposts oder der hydraulischen Scheibenbremsen. Ist K.I.S. wirklich die Revolution in der Lenkdynamik von Mountainbikes?

Keep It Stable – Der Name ist gleichzeitig das große Versprechen des Systems.
Bringt der Kuss von Canyon und Syntace ewige Liebe?

Hintergrund und Funktionsweise der Lenkmechanik

Um die Funktionsweise des K.I.S.-Systems zu verstehen, ergibt es Sinn, sich erst einmal die grundlegende Funktion der Lenkung auf dem Fahrrad anzuschauen. Auf den ersten Blick wirkt das super einfach: Man muss doch nur den Lenker zur Seite drücken und dadurch lenkt sich das Vorderrad ein! Ganz so einfach ist es aber nicht. Dazu muss man sich nur mal ein Radrennen anschauen – von Tour de France über Cross-Country bis hin zu Downhill –, um zu sehen, dass Kurven zu einem großen Teil über die Neigung des Bikes gefahren werden. Vor allem bei hoher Geschwindigkeit.
Ein weiterer Effekt, der eine große Auswirkung auf das Lenkverhalten hat, ist der Nachlauf.
Der Nachlauf hängt vom Offset – also dem Versatz – der Gabel, dem Lenkwinkel und der Laufradgröße ab. Vereinfacht gesagt, erhöht sich die Spurstabilität des Vorderrads, je größer der Nachlauf wird. Man kann sich das vorstellen wie das Rad eines Einkaufswagens, das mit Abstand zur Drehachse befestigt ist und so beim Schieben des Wagens in Fahrtrichtung ausgerichtet wird. All diese Effekte beeinflussen die Funktion des K.I.S-Systems.

Die Funktionsweise des K.I.S.-Systems

Das Grundprinzip des K.I.S.-Systems ist sehr simpel: Es ist eine Spiralfeder an Gabelschaft und Oberrohr angebracht, die beim Einlenken gespannt wird. Wie so oft, steckt aber auch hier der Teufel im Detail.

Keine Sorge, am Serien-Bike wird dieses Loch nicht zu finden sein.
Das Federsystem ist mit zwei Bändern am Gabelschaft befestigt.

Die Feder ist über zwei Bänder mit einem ovalen Ring befestigt, der am Gabelschaft verschraubt ist. Durch den ovalen Ring ist die Mitte der Lenkung eindeutig definiert und die benötigte Kraft im Verlauf des Lenkens kann über die Form des Rings geändert werden. Durch dieses Federsystem werden keine Lager, Dämpfer oder andere Teile benötigt, die gewartet werden müssen. Zudem gibt es keine Reibungsverluste und das System bringt lediglich ein Mehrgewicht von etwa 120 g mit. Getestet wurde es laut Hersteller auf dem Prüfstand mit einer Millionen Lenkzyklen. Falls man aber doch mal Probleme mit der Feder haben sollte, kann man diese einfach bei Canyon als Ersatzteil kaufen. Jede Rahmengröße besitzt dieselbe Federhärte, man kann jedoch die Vorspannung mit einem kleinen Regler auf dem Oberrohr verändern. Damit lässt sich das System an Gewicht, Lenkerbreite oder persönliche Vorlieben anpassen. Dazu muss man den Regler mit einem 4er-Inbus lösen und in der gewünschten Position wieder fixieren.

Das Diagramm zeigt das Drehmoment, das durch das K.I.S.-System auf den Lenker ausgeübt wird. Abgebildet ist der Lenkeinschlag von 90° links bis 90° rechts. Auf diese Winkel ist der Lenkeinschlag durch einen mechanischen Anschlag begrenzt, um die Feder vor Überdehnen zu schützen. Leider zeigt das Schaubild keine absoluten Werte, aber man kann dennoch klar erkennen, dass um die Mitte herum die benötigte Kraft sehr stark ansteigt. Das erzeugt eine starke Zentrierung des Lenkers, sodass er stabil in der Mitte gehalten wird und man ein deutliches Feedback bekommt, sobald man beginnt, einzulenken. Da die Steigung hier sehr steil ist, muss viel Kraft aufgebracht werden, um den Lenker zum Beispiel von 5° zu 10° zu drehen. Dabei ist es egal, ob diese Kraft durch den Fahrer über den Lenker aufgebracht wird oder durch den Untergrund. Somit benötigen auch seitliche Schläge auf euren Reifen mehr Kraft, um den Lenker zu bewegen. Feine Schläge beim Geradeausfahren – wie auf ausgefahrenen Bikepark Lines oder High-Speed-Sektionen mit unebenem Untergrund – sollen dadurch stabilisiert werden.
Durch die ovale Form des Rings steigt die Kraft bei großen Lenkeinschlägen allerdings deutlich schwächer an. Um den Lenker also z. B. von 40° auf 45° zu drehen, wird dann viel weniger Kraft benötigt. Dadurch soll verhindert werden, dass man in engen Kurven viel Kraft aufwenden muss. Durch diese geringere Federkraft haben jedoch auch Schläge vom Untergrund weniger Auswirkungen darauf, den Lenker zu bewegen.

Das Canyon Spectral CF 8 K.I.S.

Das Canyon Spectral CF 8 K.I.S. ist auf den ersten Blick kaum von dem normalen Spectral zu unterscheiden. Kein Wunder, denn im Grunde ist es das gleiche Bike. Nur der kleine Regler für die Federspannung auf dem Oberrohr verrät, dass hier das Keep It Stable-System verbaut ist. Das Canyon Spectral CFR hat in unserem Trail-Bike-Test bereits seine Allround-Qualitäten unter Beweis gestellt. Das CF 8 setzt auf die gleiche Rahmenplattform, ist allerdings aus einem etwas schwereren Carbon gefertigt und hat etwas günstigere Parts verbaut. Wichtig ist dabei, dass sich am CF 8 K.I.S. die gleiche Gabel befindet wie beim Standardmodell. Sie hat den gleichen Offset von 44 mm und ändert somit nicht den Nachlauf und die Lenkmechanik des Bikes.
Das K.I.S.-System ist clean in den Rahmen des Bikes integriert. Die einzigen Unterschiede sind der Einsteller für die Federspannung auf dem Oberrohr und ein kleines Loch an der Seite des Steuerrohrs, mit dem man den ovalen Ring erreichen kann. Die Änderung der Vorspannung geht schnell und einfach, man benötigt dazu lediglich einen Inbus. Der Einstellbereich ist groß genug, dass man deutliche Unterschiede wahrnehmen kann, ganz abstellen lässt sich das Federsystem allerdings nicht. Hierzu müsste es demontiert werden.

Test: Das K.I.S.-System im Canyon Spectral CF 8 K.I.S. auf dem Trail

Wir hatten die Chance das System für bereits ca. 2 Monate ausführlich zu testen. Fährt man mit dem Canyon Spectral CF 8 K.I.S. die ersten Kurven, fühlt es sich zunächst sehr ungewohnt an. Es ist ratsam, erst einmal mit einer schwächeren Vorspannung zu fahren, denn selbst da spürt man den Widerstand der Feder beim Lenken deutlich. Auf den ersten Metern fühlt es sich wie bei der ersten Auto-Fahrstunde an, in der sich die Kurvenradien noch nicht richtig einschätzen lassen. So muss man in der Kurve oft nachkorrigieren, um auf der Linie zu bleiben und beim Kurvenausgang nicht zu weit, innen oder außen zu landen. Nach kurzer Zeit hat man sich jedoch daran gewöhnt und der Widerstand gibt einem Feedback, wann der Lenker mittig ist. Dennoch fühlt sich das Lenkverhalten weniger spritzig an und vor allem in schnell folgenden Kurven spürt man die zusätzlich benötigte Kraft deutlich.

In den ersten Kurven mit K.I.S. muss man sich erst einmal an den Widerstand der Feder gewöhnen.
In schnellen, geraden Sektionen bringt das System verbesserte Laufruhe.

Geht es geradeaus, spürt man eine Stabilisierung der Lenkung. Vor allem bei roughen Sektionen mit hoher Geschwindigkeit kann man den Lenker weniger fest packen – wenn man dem System genug vertraut und der Untergrund es zulässt. Das steigert die Sicherheit und man kann den Körper hier etwas mehr entspannen. Die starke Zentrierung des Lenkers ist vor allem dann spürbar, wenn man plötzlich stark einlenken muss, also wenn man beispielsweise auf einer nassen Wurzel wegrutscht. Dadurch erhält man etwas mehr Feedback davon, wie sich das Bike unter einem bewegt.

Ist K.I.S wirklich eine Revolution im Mountainbike-Sport?

Canyon hat das K.I.S.-System angepriesen mit vielen Vorteilen, die daraus resultieren sollen. Doch bringt die Stabilisierung wirklich die Revolution, die der Hersteller verspricht? Ein Effekt, der auf dem Trail spürbar ist, ist die verbesserte Fahrstabilität. Allerdings auch nur beim Geradeausfahren und nur, wenn die Schläge nicht zu stark sind. Wir können uns deshalb gut vorstellen, dass K.I.S. am Gravel-Bike sehr gut funktioniert. Denn beim Graveln ist man oft sehr schnell auf unebenem Untergrund unterwegs, ohne dass es technisch sehr anspruchsvoll wird. Große Schläge, Kompressionen oder Steinfelder fährt man hier nicht. Durch den schmalen Lenker – sprich den geringeren Hebel –, den man an einem Gravel-Bike hat, neigt die Front hier auch eher zum Flattern, weshalb eine Stabilisierung bei geringen Lenkbewegungen Sinn ergeben würde.

Da die Federkraft in Kurven nachlässt und auch für größere Schläge wie in technischen Steinfeldern zu schwach ist, profitieren Mountainbiker nur in bestimmten Situationen von dem System. Zudem lässt sich ein ähnlicher Effekt auch durch robustere Reifen erreichen. Durch den niedrigeren Luftdruck, den man damit fahren kann, dämpfen sie feine Schläge gut ab und bringen gleichzeitig noch besseren Grip und schützen die Felgen. Zudem erreicht man durch die größere rotierende Masse ein Plus an Fahrstabilität bei hohen Geschwindigkeiten.

Wenn ein Trail gerade, schnelle und raue Passagen hat, kann das Keep It Stable-System Ermüdung reduzieren, da man hier den Lenker weniger stark packen muss. Dafür muss man allerdings gut an das System gewöhnt sein, um das Vertrauen zu haben, sich etwas entspannen zu können. Wird das Terrain jedoch anspruchsvoller oder erfordert der Trail schnelle Richtungswechsel, verschwindet dieser Effekt weitgehend. Zudem kann die erhöhte Kraft, die man hier aufbringen muss, störend sein, da man dadurch das Gefühl hat, gegen das System zu arbeiten, anstatt von ihm unterstützt zu werden.
Das K.I.S.-System kann theoretisch Untersteuern verhindern, wenn man das Fahrrad isoliert betrachtet. Dann die Gabel ist über die Feder mit dem Heck verbunden und so übt die Feder beim Einlenken eine Kraft auf das Heck aus, das dieses in die gleiche Linie der Front zieht. In der Realität muss man allerdings das Gesamtsystem von Bike und Fahrer betrachten. Und die Kraft, die der Fahrer über seinen Körper ausübt – der dann auch die Front mit dem Heck verbindet –, ist weitaus größer als die der Feder. Untersteuern ist also weiterhin am effektivsten vermeidbar, indem man die Front richtig belastet.
Bei der Einführung von hydraulischen Scheibenbremsen und verstellbaren Sattelstützen im Mountainbike-Sport war jedem sofort klar, dass wir sie uns in Zukunft nicht mehr von einem MTB wegdenken können. Der positive Effekt war zu markant, die Entwicklung von z. B. Laufrädern wurde auf ein nächstes Level gehoben und das Mountainbiken weitaus sicherer gemacht. Canyon und Syntace werben zwar damit, einen ähnlichen revolutionären Effekt mit ihrem K.I.S-System erreicht zu haben, doch in diesem Ausmaß ist er auf dem Trail nicht spürbar.

Das K.I.S.-System verändert das Handling des Bikes spürbar, …
… allerdings nicht nur zum Positiven.

Unser Fazit zum K.I.S.-System

Keep It Stable ist eine spannende Erfindung, mit einem deutlichen Effekt auf das Bike-Handling, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Seine Stärken spielt es auf schnellen und geraden Passagen aus, bei denen es den Lenker spürbar stabilisiert. Dadurch kann es auf entsprechenden Trails die Ermüdung verringern. Wird es eng und viele Richtungswechsel stehen an, hat man aber das Gefühl, gegen das System arbeiten zu müssen, und das Bike fühlt sich träger und weniger spritzig an.


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als ENDURO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die Mountainbike-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text: Simon Kohler, Peter Walker Fotos: Boris Beyer, Roo Fowler / Canyon