Ausgabe #039 Special

Grenzen überschreiten – Welches ist das beste Bike der Welt?

Was macht ein perfektes Bike aus? Jedes Jahr wird ein neuer König gekrönt, nur um dann wieder vom nächsten Jahresmodell entthront zu werden. Unsere Bikes entwickeln sich noch immer weiter, das ist unbestritten. Aber entwickeln auch wir uns?

Ein Freund hat mich neulich gebeten, ihm mein Lieblings-Bike zu nennen. Eigentlich sollte das eine einfache Aufgabe sein, aber ich konnte mich partout nicht auf eine Antwort festlegen. Ich wusste, welches das Schnellste auf meinen Hometrails war, aber bedeutete das gleichzeitig, dass es auch das Beste war? Ich durchforstete mein Gedächtnis und erinnerte mich an viele unglaubliche Momente auf den Trails, an unzählige Augenblicke reinster Freude auf einigen der weltweit besten Mountainbikes. Darunter waren Bikes, die sich in jedem noch so ruppigen Terrain wahnsinnig leistungsfähig angefühlt haben und wieder andere, die im Kampf gegen die Stoppuhr mehr beeindruckten. Doch es gibt Bikes, die sich unauslöschbar in meinem Gedächtnis eingebrannt haben: Und zwar diejenigen, die mich mit meinen Grenzen spielen ließen.

Wir alle haben das schon einmal gespürt, dieses kurzzeitige Realisieren, dass wir uns auf einer unsichtbaren Grenze bewegen. Ich spreche nicht von dem „Racing“-Gefühl, sondern von diesem erregenden Kribbeln bei der Fahrt ins Ungewisse, wenn die Zeit sich zugleich verlangsamt und beschleunigt. Die sensible Wahrnehmung, dass die Dinge nur einen Hauch davon entfernt sind, sich außer Kontrolle zu bewegen. Diese Grenze zu überschreiten bedeutet nicht automatisch, dass man schwer stürzen wird, aber man würfelt gewissermaßen und zockt mit dem Schicksal. Profi-Rennfahrer verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit beiden Rädern deutlich jenseits dieser Grenze. Das müssen sie sogar. Um auf dem Podium ganz oben zu stehen, sind Erfahrung und Taktik mittlerweile von Wagemut und Risiko abgelöst worden. Doch wir Normalsterblichen wollen einfach ein Bike fahren, das uns das Selbstvertrauen gibt, sich von Zeit zu Zeit am Rande des Unbekannten bewegen zu können.

Mountainbiken ermutigt uns wie kaum eine andere Sportart, unsere Grenzen auszuloten. Wir fahren nicht auf asphaltierten Tennisplätzen oder gepflegten Fußballfeldern, sondern pflügen durch wildestes Gelände und abgelegenste Regionen der Welt. Unser Sport gibt uns nicht nur die Möglichkeit, etwas zu erreichen, sondern lehrt uns auch, mit Furcht umzugehen, Risiken einzugehen und oftmals unsere Ängste zu überwinden, wie klein sie auch sein mögen. Ein seltenes Gut, das unser Arbeitsleben kaum bietet. Man kann nicht einfach in sein Büro gehen und mit der Gefahr flirten. Stellt euch nur mal vor, euch von einem Deckenventilator durch den Raum wirbeln zu lassen oder mit dem Kopiergerät das Treppenhaus hinunter zu fahren – sicherlich aufregend, aber sehr wahrscheinlich mit einer Kündigung verbunden. Wenn wir einen neuen oder furchteinflößenden Trail fahren, dann ist das eine Gelegenheit, mit unseren ureigenen Ängsten zu tanzen und zu sehen, wie weit wir uns dabei vorwagen. Ist heute der Tag, an dem wir uns dieses Gap vornehmen? Die waghalsige Inside-Line wählen? Verschieben wir heute unsere Grenzen?

Mit Risiken geht meist auch Belohnung einher. Erinnert ihr euch an das Gefühl, als ihr zum ersten Mal diesen einen Drop gemeistert habt, um den ihr zuvor monatelang ängstlich einen Bogen gemacht habt? Habt ihr euch jemals bei eurer Arbeit so gefühlt? Ich nehme an, die Antwort lautet nein.

Genau das macht Mountainbiken doch so verdammt spaßig! Während unseres Lebens verändert sich auch unsere Perspektive: In unseren Teenager-Jahren schwindet die Grenze vollkommen, ist unsichtbar und nichts scheint unmöglich oder zu verrückt. Während wir älter werden, verschiebt sich die Grenze wieder zurück in Sichtweite, jeder Fehler oder eine frische Verletzung rückt sie ein wenig näher heran. Wir bekommen das ein oder andere Coaching oder absolvieren ein paar Rennen und schaffen es so, die Grenze wieder weiter weg zu schieben. Dann kommt die Midlife-Crisis, in der eine prall gefüllte Geldbörse uns zu schnellen Motorrädern und Autos verführt, bevor wir realisieren, dass wir doch zu viel Angst davor haben, uns Geschwindigkeiten von weit über 100 km/h zu stellen. Und so kaufen wir stattdessen Golfschläger. All das ist ein Teil unseres Lebens. Die Elternschaft verrückt die Grenzen noch einmal völlig und wir beginnen, in Abenteuern und bedeutenden Leistungen unsere Grenzerfahrungen zu finden, anstatt bei der Überwindung unserer Ängste – jedenfalls zumeist.

Also wie kommt es, dass ich im Alter von 40 Jahren und als frisch gebackener Vater möglicherweise härter fahre als je zuvor, steilere Trails hinunterjage, größere Drops nehme und mehr Airtime genieße? Was ist es, das mich antreibt, härter an meine Grenzen zu drängen? Eine schwierige Frage, die sich jedoch einfach beantworten lässt: Weil die Bikes sich auch jetzt noch verbessern. Mit jedem neuen Jahr werden sie besser, zwar nicht sprunghaft, aber die schrittweise Evolution ist spürbar. Federelemente, Bremsen, Reifen und Geometrie verbessern sich stetig und erlauben es uns, geschmeidiger und schneller durch zunehmend härteres Terrain zu brettern und an unsere Grenzen zu gehen. Ist es das, was unser Bedürfnis nach andauerndem Aufrüsten befeuert und uns weiterhin nach aktuellen Modellen und der neuesten Technologie gieren lässt?

Es wäre ein Leichtes, den Wert eines Bikes einfach am Wettlauf gegen die Stoppuhr zu bemessen – und für einige ist das sicher auch alles, was zählt – aber es steckt weit mehr dahinter, als nur das.

Also, ist mein Lieblings-Bike nun jenes, welches ich als am schnellsten empfand? Es wäre ein Leichtes, den Wert eines Bikes einfach am Wettlauf gegen die Stoppuhr zu bemessen – und für einige ist das sicher auch alles, was zählt – aber es steckt weit mehr dahinter, als nur das. Der Reiz unseres Sports ist es doch, dass ein jeder von uns seine ganz eigenen Grenzen an unterschiedlichen Stellen findet, nicht immer nur bei hochdramatischen Rennabschnitten. Die Herausforderung kann einfach alles sein: einen gewaltigen Drop zu nehmen, eine Kurve perfekt zu fahren, eine felsige Passage ohne Angstschreie zu meistern oder auch einen leichten Trail ohne Furcht zu bezwingen. Langhubige Bikes erfordern hohe Geschwindigkeiten sowie Nerven aus Stahl, um sie ans Limit zu bringen und zwingen uns somit nahezu, härter und schneller zu fahren. Die Raketen mit weniger Federweg sowie Hardtails hingegen sorgen dafür, dass sich die eigenen Grenzen deutlich näher anfühlen als erwartet und liefern so Nervenkitzel bei geringerem Risiko. Alles ist relativ.

Egal welches Bike wir fahren, wie alt es ist oder sogar welche Laufradgröße es besitzt: Wir haben alle Werkzeuge, die wir brauchen, um etwas Erstaunliches zu erreichen und unserem alltäglichen Leben zu entfliehen. Aber mit fortschreitender Bike-Technologie entwickeln sich eben auch unsere Erwartungen. Also zurück zur Frage, welches mein Lieblings-Bike ist: „Das Bike, mit dem ich morgen unterwegs sein werde, schätze ich“.


Dieser Artikel ist aus ENDURO Ausgabe #039

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Text: Fotos: Diverse