Als Pro-Racer hat Innes Graham sein Leben der Jagd nach Sekunden gewidmet. Sein Aufstieg durch die Weltcup-Rangliste war beeindruckend und es schien, als könnte ihn nichts aufhalten. Doch der Trainingslauf beim Downhill Weltcup in Lenzerheide im Jahr 2016 veränderte das Leben von ihm für immer. Das ist die Geschichte eines Racers, der ausgebremst wurde und so zu sich selbst gefunden hat.

Das Leben von Innes Graham drehte sich um die Jagd nach Sekunden und Racing auf Worldcup-Niveau

Innes Graham hat in seinem Leben schon viele Lektionen gelernt. Schon im Alter von vierundzwanzig hat der Schotte mehr erlebt als die meisten von uns. Egal ob innerhalb oder außerhalb des Mountainbike-Sports. Seine Geschichte ist bis jetzt vollgepackt mit Höhen und Tiefen, Highlights und Lowlights. Manche behaupten, es sei einfach, professionell Rennen zu fahren und „den Traum zu leben“, aber dieser Traum kann sich im Nu in einen Alptraum verwandeln…

Ich war bei einem Drop einfach zu langsam dran. Ich landete auf einem Baumstumpf und hörte, wie mein Oberschenkelknochen brach. Ich erinnere mich an ein lautes Knacken und dass ich mit verdrehten Beinen auf dem Boden lag und dachte: Das sieht nicht gut aus!

Im Bruchteil einer Sekunde stellte sich das Leben von Innes auf den Kopf. Ein gebrochener Oberschenkelknochen ist eine Herausforderung für jeden. Ganz besonders aber für einen Profi-Rennfahrer, dessen ganzes Leben dem Ziel gewidmet ist, so schnell wie möglich zu sein. Doch anstatt seine Reise auf zwei Rädern an diesem schicksalhaften Tag im Jahr 2016 zu beenden, nutzte Innes die Zeit, um nachzudenken, den Kurs zu ändern und sich selbst neu zu erfinden.

Kapitel 1: Die Vorgeschichte

Wir kennen Innes schon länger und waren vor kurzen mit ihm auf seinen Hometrails von Innes im Tweed Valley unterwegs. Danach sind wir für eine wärmende Tasse Tee und um mehr über seine Hintergrundgeschichte und seine positive Lebenseinstellung zu erfahren zurück zu seiner Wohnung. „Ich habe von Anfang an mit Bikes zu tun gehabt”, erzählt er uns lächelnd. „Mein Vater hat seinen Führerschein erst mit vierzig gemacht, also war ich immer vorne auf seinem Bike und fuhr einfach mit.” Er lacht. Da er, solange er denken kann, ein Liebhaber von Mountainbikes gewesen ist, schien es nur natürlich, dass Innes seine Leidenschaft schon in jungen Jahren energisch verfolgte.

Innes begann mit dem Racen mit vierzehn Jahren und konnte von Beginn an erste Erfolge einfahren

Im Jahr 2009 veranstaltete ein Bikeshop in seiner Heimatstadt Dundee eine Talentsuche für ein Racing-Team und Innes wollte sein Können beweisen. Der Showdown fand am legendären Schauplatz von Dunkeld in den Schottischen Highlands statt und Innes konnte auf seinem ramponierten alten Iron Horse überzeugen.

Im Shop-Team zu sein, gab mir die Möglichkeit, an ein erschwingliches Downhill-Bike zu kommen. Und es gab auch ein paar Tipps für den Rennzirkus.

Innes startete sofort los und fuhr im Alter von nur vierzehn Jahren die komplette Serie der Scottish Downhill Association (SDA). Von Anfang an war klar, dass er Talent hat, stand er doch bei den ersten fünf Rennen auf dem Podium. In den nächsten Jahren richtete Innes seine Aufmerksamkeit auf den nationalen Rennsport und es dauerte nicht lange, bis er seinen ersten Podiumsplatz bei den britischen National-Rennen erreichte. Die Sache kam dann 2012 richtig ins Rollen, als Innes für das Lapierre Cadets Team unterschrieb und den Borders Academy for Sporting Excellence (BASE) Kurs in Schottlands Bike-Mekka, dem Tweed Valley, startete. Weitere Siege auf nationaler Ebene folgten und Innes entschied sich, den Rennsport mit allem, was er hatte, fortzusetzen. „Mein Leben drehte sich nur noch um das Thema Racing“, erklärt er. „Das war alles, was ich tat und alles, was mich interessierte.“

An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Ian Linton Photography für diese Shots aus seinem Archiv

Kapitel 2: Der Traum von der Profi-Karriere

Ein Jahr später hatte Innes einen Platz im MS Mondraker Team ergattert und die internationale Karriere begann mit einer Top-Ten-Platzierung bei seiner allerersten Weltmeisterschaft. Die nachfolgenden drei Jahre waren jedoch geprägt von Verletzungen und Rückschlägen.

Ich habe mir das Fersenbein zertrümmert, beide Schlüsselbeine gebrochen, die Schulter ruiniert und die Hüfte ausgekugelt. Es gibt wahrscheinlich noch mehr, an das ich mich aber nicht mehr erinnern kann …

2015 war Innes’ erstes Jahr in der Downhill-Elite. „Ich hatte mein erstes Jahr in der Elite-Kategorie sehr stark begonnen und mich in meiner ersten Weltmeisterschaft unter den Top-20 platziert. 2015 gewann ich auch ein paar nationale Rennen, konnte diese Leistung im Weltcup aber nicht erzielen“, erzählt er uns. „Ich kämpfte auf den Weltcup-Strecken hart, denn ich bin ziemlich klein und war nicht so fit wie einige der Fahrer, mit denen ich mich verglich. Deshalb war ich oft unzufrieden mit meiner Performance. Rückblickend wird mir klar, dass meine Herangehensweise an den Rennsport völlig falsch war. Ich war nur auf Podiumsplätze fokussiert, anstatt am Rennfahren zu wachsen.“

Innes’ Profikarriere war voller Highlights, für die er jedoch mit eingen Knochenbrüchen bezahlen musste

2016 war ein Neuanfang für Innes. Er unterschrieb bei einem neuen, kleineren Team (Propain Dirt Zelvy) und machte einen Schritt weg von den großen Sponsoren. Das neue Team fühlte sich vertrauter an und Innes fühlte sich in diesem neuen Umfeld deutlich wohler. „Ich hatte einen ziemlich durchschnittlichen Start in die Saison 2016. Dann kam Lenzerheide. Mann, ich hasse diesen Track! Im Jahr zuvor hatte ich mir dort mein Schlüsselbein gebrochen. Auf der gleichen Strecke und an meinem Geburtstag!“

Kapitel 3: Verletzung, Genesung und Reflexion

Runde 5 des UCI Downhill World Cups 2016 in Lenzerheide war das letzte Rennen, das Innes Graham in seiner Profikarriere gefahren ist. Ein kleiner Fehler während eines Trainingslaufs vor der Qualifikation führte zu einem harten Sturz, der seinen Oberschenkelknochen zerschmetterte und seinen Renntraum beendete. „Am Morgen des Qualifyings war ich bei einem Drop einfach zu langsam dran. Ich landete auf einem Baumstumpf und hörte, wie mein Oberschenkelknochen brach. Ich erinnere mich an ein lautes Knacken und dass ich mit verdrehten Beinen auf dem Boden lag und dachte: Das sieht nicht gut aus!“

Innes verbrachte die darauffolgenden Wochen in einem Schweizer Krankenhaus, in dem er nur spärlich verpflegt wurde und keinen finden konnte, der Englisch sprach. Nach dem Krankenhausaufenthalt kam Innes in seine kleine Wohnung im Tweed-Valley zurück und musste nun mit den Folgen des Unfalls kämpfen. „Ich lebte alleine in meiner kleinen Wohnung. Es war wirklich eine frustrierende Situation.“ Am Tiefpunkt seiner Karriere fragte sich Innes, wie sein weiteres Leben aussehen soll.

Es waren die Verletzungen, die mich wirklich zum Nachdenken gebracht haben. Das alles macht nicht mehr so viel Spaß wie früher, dachte ich mir. Ich habe 110 % in meine Rennen und in mein Training gesteckt. Alles, was ich tat, war über das nächste Rennen nachzudenken und meistens kam ich kaputt und enttäuscht nach Hause. Ich traf die Entscheidung, im folgenden Jahr nicht mehr Rennen zu fahren und zog für eine Weile zu meinem Vater.

Kapitel 4: Der Wechsel auf 20”-Laufrädern

Nicht in der Lage, ein Bike zu fahren, ohne Einkommen und mit zu viel Freizeit. Nun musste Innes einen Job finden. „Nachdem ich nach Hause gezogen war, fing ich an, Vollzeit in einem Restaurant zu arbeiten. Es war alles ganz anders“ erzählt er uns. Obwohl die Arbeit in der Küche für Innes per se nicht unangenehm ist, begann die plötzliche und massive Änderung des Lebensstils seinen Tribut an Innes’ geistige Gesundheit zu fordern. „Es ist nichts, wofür ich mich schäme“, sagt er in einem ernsten Ton. „Ich denke, es ist wichtig, über diese Dinge zu sprechen und sie ans Licht zu bringen. Probleme mit der psychischen Gesundheit können jeden betreffen, sogar diejenigen, von denen gesagt wird, dass sie den Traum leben.“

Vom erfolgreichen Leistungssportler zum abrupten Karriereende. Die finanzielle Unsicherheit war wirklich schwer zu verkraften. Ich bin von Rennerfolgen und dem Reisen um die Welt zum totalen Gegenteil übergegangen. Es war ein großer Kontrast und das rüttelte an meiner mentalen Gesundheit. Ich habe vieles unter den Teppich gekehrt und bin weitergegangen. Die Menschen um mich herum hatten damals ein ganz anderes Mindset als ich. Damit hatte ich sehr zu kämpfen.

Ein halbes Jahr nach seiner schicksalhaften Verletzung konnte Innes wieder biken. Doch anstatt seinen Downhiller zu nehmen, wandte er sich dem BMX-Fahren zu, um dem Alltagsstress zu entfliehen und um neue Skills zu lernen. „Ich wollte nicht ganz mit dem Biken aufhören und das BMX-Fahren fühlte sich frisch und neu an. Deshalb hat es mir so viel Spaß gemacht. Es gab keine Regeln, niemand sagte mir, was ich tun durfte und was nicht.“ Innes’ Fortschritt auf dem BMX war unglaublich und er begann, Wellen in der Szene zu schlagen. Bald konnte er Kontakt zur kalifornischen Marke Sunday Bikes aufbauen. In den nächsten drei Jahren fuhr Innes ausschließlich BMX und es schien fast so, als ob die Tage auf dem Mountainbike hinter ihm liegen würden.

Kapitel 5: Slow down, go faster

Nach dreieinhalb Jahren Pause kam Innes’ Rückkehr in die Mountainbike-Szene. Gee Milner, ein britischer Filmer, der schon zuvor mit Innes zusammengearbeitet hatte, suchte nach einem Fahrer, der in einer Episode seiner Dream Build-Serie mitspielen sollte. Innes bekam die Rolle und fuhr nach Sheffield, um das neue RADON SLIDE TRAIL zu testen. In Vans, Jeans und einem coolen Hemd fand Innes an diesem Tag wieder zu seiner alten Liebe, dem Mountainbiken, zurück. Kurz nachdem das Video live ging, kontaktierte ihn RADON über Instagram und wollte sein Comeback unterstützen. „Das Team von RADON fragte mich nach meinem Background. Ich erklärte ihnen, dass mir der Rennsport den Spaß verdorben hatte und dass ich mich nach fast vier Jahren einfach wieder in Mountainbikes verliebt habe. Sie sagten mir, ich solle das Bike behalten (ein echtes Traum-Bike!), stellten aber keinerlei Forderungen an mich. Es dauerte nicht lange, bis Innes einen Vertrag unterschrieb, um RADON für das Jahr 2020 zu repräsentieren. Mit keinen anderen Verpflichtungen als eine gute Zeit mit ihren Bikes zu haben.

In meiner Freizeit gehe ich in Jeans und mit Vans auf den Trail. Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, was ich beim Biken tragen soll. Ich trage, was sich gut und natürlich anfühlt.

Mir wurde von RADON nichts vorgeschrieben. Ich fahre einfach deren Bikes, repräsentiere die Marke und habe wieder Spaß am Mountainbiken. Das ist es, was ihr ganzes Ethos ausmacht: Riding and good Times!

Bald darauf kündigte Innes seinen Job im Restaurant und begann eine Teilzeitbeschäftigung als Coach für Dirt School, einem renommierten Unternehmen für Mountainbike-Fahrtechnik. „Es macht sehr viel Spaß, mit Dirt School zu arbeiten. Es gibt mir wirklich viel. Ich habe es immer genossen, zu coachen und anderen zu helfen.“ Wenn er über die Höhen und Tiefen seiner bisherigen Geschichte nachdenkt, hat Innes nichts zu bereuen. Er ist dankbar für die Erfahrungen, die er gemacht hat, und für die positiven Veränderungen und Entwicklungen.

Ich schaue zurück und denke: Was wäre, wenn … . Aber das denkt doch jeder, oder? Ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, und für die Möglichkeiten, die sich ergeben haben. Immer noch in der Lage zu sein, biken zu gehen, andere zu trainieren und mehr Spaß als je zuvor zu haben, ist klasse. Ich freue mich sehr auf die Zukunft, egal ob ich für eine Marke unterwegs bin, coache oder BMX fahre. Die Balance ist der Schlüssel zu einem glücklichen Leben. Solange ich diese Balance halten kann, werde ich weiter wachsen und im Sport Fortschritte machen.

Was die Zukunft für Innes Graham noch bereithält, wissen wir nicht. Mit einer Reihe von Möglichkeiten, aus denen er wählen kann, könnte seine Reise mit diesem Sport viele Formen annehmen. Eines ist jedoch sicher: Welchen Weg Innes auch immer wählt, er wird von seiner Lebensfreude und dem Spaß am Mountainbiken angetrieben werden.

Die Geschichte von Innes Graham ist inspirierend. Sie zeigt uns die knallharte Wahrheit. Wenn man einen schweren Rückschlag wegstecken muss, ist es einfach, die Hoffnung aufzugeben. In den schwierigsten Zeiten können wir am meisten lernen und gestärkt daraus hervorgehen. Durch eine gewisse Selbstreflexion und durch eine neue Perspektive kann man viel Positives für das eigene Leben erreichen. Manchmal gibt es nur eine Devise: Slow down to go faster!


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