Der Schlamm spritzt, die Kette rasselt und plötzlich ist es da, dieses Knackgeräusch. Diagnose: Rahmenbruch! Doch das ist das kleinere Problem. Viel schlimmer: Wer sich aktuell nicht beinahe täglich mit dem Thema Mountainbiken beschäftigt, wird kaum ein passendes neues Rad finden. Unzählige Kategorien, Reifen- und Laufradgrößen sorgen für Verwirrung. 26″, 27,5″, 27.5+, 650b, 29″, 29+, Tour, Super-Tourer, Trail, Allmountain, Super-Allmountain, Enduro Light, Enduro, Freeride-Light … wer blickt hier noch durch? Die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach – aber weder Marketer, Magazine noch Tech-Nerds wollen es wahrhaben.

Plus-Reifen-Vergleichstest
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Wir lieben Fortschritt, neue Technologien und Veränderungen. Aber das Tempo, mit dem sich die Bike-Industrie ständig vermeintlich neu erfindet, ist nicht nur für die Branche selbst, sondern vor allem für den Kunden ein echtes Problem. Im Handel herrschen Verwirrung und Unsicherheit, neue Standards und Größen gefährden mittelfristig angeschafften Lagerbestand. Für den Kunden kann das heißen, dass er einfach nur das bekommt, was der Händler aus dem Lager haben will. Ein guter Händler hingegen setzt auf Reduktion und gute Beratung – schließlich ist das Potenzial enorm. Fakt ist: In den letzten Jahren haben sich Mountainbikes enorm weiterentwickelt. Fahrwerke wurden besser, Komponenten leichter, Rahmen effizienter und so verschwammen jegliche Grenzen klarer Kategorien, die einst für Ordnung und Orientierung sorgten. Im Umkehrschluss heißt das, dass Kaufentscheidungen schon lange nicht mehr nur anhand der nackten Zahlen getroffen werden (sollten). Das zeigt auch dieser Test, bei dem wir unterschiedliche Versionen von exakt derselben Modellreihe eines Herstellers getestet haben. Gleicher Name, weitestgehend gleiche Ausstattung, unterschiedliche Laufräder – der Unterschied? Gewaltig!

Plus-Bikes sind der große Trend für die Saison 2016. Entgegen vieler Annahmen handelt es sich hier nicht um ein neues Laufradmaß, sondern das „Plus“ (auch B+, 27,5+ oder 27+) steht lediglich für breitere Reifen von bis zu 3,0″. Montiert auf Felgen von bis zu 50 mm Breite sollen sie das Beste aus der Welt der Fatbikes und der traditionellen Bikes kombinieren. Dabei sollen sie den Grip der voluminösen mit dem agilen Handling der schmalen Pneus in sich vereinen und so mehr Traktion und Fahrsicherheit bieten, ohne dabei zu behäbig zu sein. Doch kann das funktionieren? Ist in der Bike-Industrie möglich, was in der Automobilindustrie undenkbar scheint: einen Traktor mit dem Fahrverhalten eines Ferraris zu konstruieren?

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Bevor man tiefer in das Thema Plus-Reifen einsteigt, sollte man sich eines bewusst machen: Man kauft niemals eine Laufradgröße, man kauft immer ein Gesamtkonzept. Bei der Suche nach dem richtigen Bikes gibt es drei grundlegende Fragen, die man sich stellen sollte: Wie sind mein Fahrstil und -können? Was erwarte ich von meinem Bike? Wo fahre ich überwiegend?
Nur wer seine eigenen Bedürfnisse kennt, kann sich auch für das passende Modell entscheiden. Wirklich schlechte Bikes existieren kaum noch, vielmehr gibt es passende und unpassende Konzepte. Ein Racer legt seinen Fokus beispielsweise auf ganz andere Faktoren als jemand, der ohne Zeitdruck Spaß auf seinen Hometrails haben möchte, oder ein Tourenfahrer, der sich stundenlang im Sattel über Alpenpässe quält. Natürlich spielt die Reifengröße hier eine Rolle, doch viel entscheidender ist das Gesamtpaket.

Äpfel & Birnen – der Test

Äpfel mit Birnen vergleichen – das ist, was Sinn und Zweck dieses Vergleichstests war. Heiße Diskussionen eilten dem Test voraus, um die genaue Ausrichtung festzulegen. Kauft man aktuell ein Rad, sollte weniger um die Reifen-Größe als um das gesamte Rad an sich gehen. Und genau hier setzen wir an. Wir wollten diesmal keine Testsieger küren, sondern euch auf den folgenden Seiten exemplarisch zeigen, wie gravierend die Unterschiede innerhalb einer Modellreihe sein können und wie man das richtige Bike findet.

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Labor-Messung? Nein danke!

Wer definiert, welche Laborwerte gut und welche schlecht sind? Und inwieweit lassen sich die dort gewonnen Ergebnisse überhaupt in die Praxis übertragen? Wir sind definitiv Freunde harter Fakten, doch für dieses Unterfangen hätte ein steriler Labortest keinen Sinn gemacht. Vielmehr interessierte uns das Fahrgefühl der Räder in verschiedenen Fahrsituationen auf unterschiedlichen Trails und hier ist das Feedback einer erfahrenen Testcrew wertvoller als einige Zahlen auf weißem Papier.

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Unser Testteam & Testtrack

Die perfekten Bedingungen für diesen Grundlagen-Test fanden wir im wunderschönen Südtirol, genauer gesagt in Latsch. Das Testteam bestand sowohl aus Profi-Racern als auch Amateuren, um die Bedürfnisse und Ansprüche unterschiedlichster Fahrer und Fahrerinnen widerzuspiegeln. Mit dabei war der amtierende Deutsche Enduro-Meister Fabian Scholz.

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Unsere alpinen Testtracks waren die abwechslungsreichen Strecken der Region. Von gebauten Anliegern und krassen Steinfeldern über Wurzelsektionen und staubige Untergründe bis hin zu losen Waldböden fanden wir hier alles, was Biker auf unterschiedlichsten Touren in ihrem Trail-Alltag erleben können.

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Was zählt, ist der Blick aufs Ganze

Das Fahrverhalten eines Bikes lässt sich nie einzig und allein auf Zahlen reduzieren. Weder der Blick auf die Geometrietabelle noch die Laufradgröße oder der Federweg ermöglichen vollständige Rückschlüsse auf das Handling des Bikes auf dem Trail. Trotz nahezu identischem Federweg fährt sich kein Rad in diesem Test wie das andere. Es gibt agile und behäbige Plus-Bikes, verspielte und extrem laufruhige 27,5″-Räder und 29er, mit denen man trotz 140 mm Federweg problemlos an einem Marathon teilnehmen könnte.

Das Fahrverhalten

Was auf Plus-Reifen generell auf jeden Fall zutrifft ist: Die Reifen bieten Grip auf einem bis dato nicht dagewesenen Level in Kombinationen mit einem – verglichen mit Fatbikes – nach wie vor agilen Handling. Hier hat uns das Marketing nicht zu viel versprochen. Speziell auf Waldböden können Bremspunkte völlig neu definiert werden und auch am Schräghang verlaufende Wurzeln fressen die Reifen mit massivem Grip und einem sehr sicheren Fahrgefühl. Egal ob Profi-Racer oder Hobby-Athlet, in diesen Situationen war jeder vom Fahrverhalten der Plus-Bikes begeistert. Doch es gab auch Schattenseiten: Für jedermann deutlich spürbar war das Walgverhalten der Reifen, wie es bspw. in Anliegern und Kompressionen auftritt, aber auch das Aufschwimmen aufgrund der breiten Auflagefläche auf matschigen und sehr losen Untergründen. Hier fühlten sich Profis wie auch Amateure unsicher. Bergauf konnte uns die Plus-Reifen aufgrund der enormen Traktion im technischen Terrain und des kaum spürbar höheren Rollwiderstands überzeugen. Hier ist einzig das Mehrgewicht und die damit etwas schlechtere Beschleunigung als Kritikpunkt zu nennen.

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Slow down, Baby

„Geschwindigkeit bringt Sicherheit“ hat bei Plus-Reifen nur zum Teil eine Berechtigung. Bei hohen Geschwindigkeiten fallen zwei Faktoren negativ auf: das undefinierte Handling und der starke Bounce-Effekt, der aufgrund der geringen Eigendämpfung der meisten Reifen auftritt. Gerade in sehr steinig-verblockten Sektionen müssen schnelle Fahrer deutlich mehr Kraft aufwenden, um mit dem Rad sicher auf Spur zu bleiben, da die Reifen zu springen beginnen und damit an Präzision verlieren. Reduziert man den Speed, zeigt sich wieder das bekannte Plus-Bild und die Fahrsicherheit ist höher als mit regulären Reifen.

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Der richtige Luftdruck

Der entscheidende Parameter bei Plus-Reifen lautet: Reifen-Luftdruck. Kaum etwas beeinflusst die Performance mehr als der Druck in den Reifen. Bereits 0,1 bar bzw. weniger als 1,5 psi können aus einem perfekt abgestimmten Bike ein nahezu unfahrbares machen und umgekehrt. Hier eine generelle Empfehlung abzugeben ist schwierig, da der korrekte Luftdruck stark vom montierten Reifenmodell, der Felgenbreite und nicht zuletzt vom Messgerät selbst abhängt. Allein bei der Messtechnik zeigten sich in unserem Test Toleranzen von bis zu 0,2 bar. Mit dem von uns verwendeten Flaig-Druckmesser lag der optimale Luftdruck je nach Reifen, Felge, Fahrergewicht und Fahrstil zwischen 0,9 und 1,2 bar. Zum Ermitteln des persönlichen Setups empfehlen wir jedem, ausgehend von 1,0 bar in 0,1-bar-Schritten den Druck zu erhöhen bzw. zu reduzieren und immer das gleiche Messgerät zu verwenden, bis der perfekte Kompromiss aus Grip und Walgen gefunden ist.

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Ist breiter wirklich besser?

Breite Felgen sind aktuell der Trend bei Laufrädern. Durch die breitere Abstützung der Reifen soll Walgen reduziert und das Luftvolumen vergrößert werden. Bei unserem Test haben wir Felgenbreiten von 30–50 mm Innendurchmesser mit 2,8″–3,0″ breiten Reifen verschiedener Hersteller kombiniert und herausgefunden: Bei Plusbikes ist „breiter“ nicht pauschal „besser“. Denn zum einen steigt das Laufradgewicht bei 50 mm breiten Modellen, was ein trägeres Handling zur Folge hat, und zum anderen wandern die Seitenstollen zu weit nach oben, was den Grenzbereich negativ beeinflusst. Gleichzeitig neigten auch die auf 50-mm-Felgen montierten Reifen weiterhin zu starkem Walgen. Als optimaler Kompromiss hat sich eine Felge mit 40 mm Innenbreite in Kombinationen mit 2,8″-Reifen herausgestellt, wobei auch das 30-mm-Modell tadellos seinen Dienst verrichtete und durch bessere Beschleunigungswerte überzeugte.

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Die Spaßbremse – das Gewicht

Bereits in unserem Testfeld der drei Bikes hat sich eines abgezeichnet: Richtig gut funktionieren Plus-Räder nur, wenn sie auch möglichst leicht sind – und das hat leider einen hohen Preis zur Folge. Die beiden Carbon-Bikes fuhren sich deutlich agiler, wendiger bergab und effizienter bergauf als das fast halb so teure, aber auch rund 2 kg schwerere Alu-Modell.

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Das Wichtigste – die Reifen

Die Reifen sind der Kontaktpunkt zum Boden und das Herzstück eines jeden Plus-Bikes. Bei unserem Test haben wir nicht nur verschiedene Reifen-Modelle, sondern auch verschiedene Breiten getestet. Dabei fielen mehrere Dinge auf: 3,0″-Reifen bieten kaum mehr Grip als 2,8″-Modelle und sind daher aufgrund ihres Mehrgewichts eher uninteressant. Auch flache Profile bieten bereits enormen Grip und will man nicht ständig Platten flicken, ist die Tubeless-Montage Pflicht.

Plus-Reifen-Vergleichstest

Die Bike Duelle

Specialized Stumpjumper FSR Expert 650b vs. 6Fattie

Hier geht es zum Vergleichstest zwischen Specialized Stumpjumper FSR Expert 650b und 6Fattie

Specialized-Stumpjumper-FSR-Expert-Carbon-6Fattie

Stevens Whaka ES 27.5 vs. 27.5+ vs. 29

Hier geht es zum Vergleichstest zwischen Steven Whaka ES 27.5, 27.5+ und 29

Stevens-Whaka-ES-27-5-plus

SCOTT Genius 900 Tuned vs. 700 Tuned Plus

Hier geht es zum Vergleichstest zwischen dem SCOTT Genius 900 Tuned und 700 Tuned Plus

SCOTT-Genius-700-Tuned-Plus

Blick in die Zukunft

Plus-Reifen bieten enorme Vorteile, verfügen aktuell aber auch noch über eine Menge Verbesserungspotenzial. Unserer Meinung nach könnten auf die Anforderungen von Vorder- und Hinterrad abgestimmte Reifen-Laufrad-Kombinationen mit verschiedenen Reifen- und Felgenbreiten die Performance verbessern. Außerdem könnten Reifen mit einer Breite von rund 2,6″ auf 30–35 mm breiten Felgen den wohl besten Kompromiss aus Traktion und Agilität darstellen. Eine weitere Herausforderung bei Plus-Rädern ist das Setup des richtigen Reifendrucks. Gerade in Zeiten immer komplexerer Bikes würden wir uns hier mehr Simplicity und Usability wünschen.

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Text und Fotos: Christoph Bayer


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