Warum drücken wir immer dem Außenseiter die Daumen? Warum bedeutet Erfolg sich selbst zu verraten?

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich zum ersten Mal den Film Rocky sah. Die ikonische Geschichte über den etwas wirren Rocky Balboa, einen Boxer der Arbeiterklasse, der entgegen aller Wahrscheinlichkeit triumphiert. Verdammt, als Kind habe ich die Videokassette rauf und runter gespult. Sein Gegner war der Schwergewichtsweltmeister Apollo Creed. Apollo hatte alles: das Geld, das Haus, die Frauen, den Glamour, einen Riesenerfolg in jeder Hinsicht. Während wir den Film als Teenager gemeinsam mit Freunden schauten, hassten wir ihn, den tollen Hecht. Wir wussten nicht warum, aber wir hassten ihn! Als der Film seinen Höhepunkt erreichte und Rocky mit seinen Kinnhaken wild um sich schlug, waren wir mit ihm im Ring, tänzelten im Zimmer herum und rissen unsere Fäuste in die Luft vor lauter Begeisterung: “Komm schon Rocky, du schaffst es!”

  Schlag ihm auf die Rippen, der Bastard darf keine Luft kriegen Mickey Goldmill [Rockys Trainer]

Wir können nichts für diese Haltung, es liegt in unserer Natur, das ist bereits mehrfach bewiesen worden. In einer wissenschaftliche Studie wurden Probanden zwei fiktive Teams vorgestellt, die in einer Serie von Begegnungen gegeneinander antreten sollten. Von den Testpersonen entschieden sich 88% dafür, jenes Team zu unterstützen, welches als das Unterlegene bezeichnet wurde. Interessanterweise wechselten über die Hälfte dieser 88% ihre Loyalität, als ihnen neue Hinweise gegeben wurden, dass der Favorit die ersten drei Spiele verloren hatte. Menschen sind wankelmütig und es ist der Kampf, der uns fasziniert. Die Rolle des Unterlegenen hat irgendetwas Faszinierendes an sich: Sie lässt uns glauben, der Benachteiligte hätte es verdient, allen Widrigkeiten zum Trotz zu siegen. In einer weiteren Studie wurden Probanden einfache Kreise vorgestellt, die auf einer Neigung platziert wurden. Dabei zeigte sich sogar, dass die Testpersonen diese gegen die Neigung „ankämpfenden“ Kreise gegenüber den gemütlich in der Ebene aufgestellten Kreisen bevorzugten und mit ihnen mehr „sympathisierten“. Wie verrückt ist das!

  Obwohl Gewinnen an sich wertgeschätzt wird, entwickeln sich oft Gefühle für den Unterlegenen, sprich die Sehnsucht danach, dass der Außenseiter es schafft, den unterlegenen Zustand zu überwinden und den favorisierten Gegner überraschend zu besiegen. [The Underdog Concept In Sport]

Natürlich gibt es Vorteile für kleinere Hersteller: Eine unbekanntere oder kleinere Marke kann schnell auf Trends und neue Entwicklungen reagieren. Außerdem kann sie eine sehr enge Beziehung zu ihren existierenden oder potenziellen Kunden führen. Produziert ein Hersteller nur ein einziges Bike-Modell, so kann er Jahr für Jahr durchgreifende Veränderungen vornehmen. Das können die Giganten der Industrie nur schwer umsetzen, denn neue Modelle bedürfen jahrelanger Vorbereitung, um in ausreichender Stückzahl auf den Markt gebracht zu werden. Wenn ein Hersteller ein ganzes Produktportfolio mit Hunderten von Bike-Modellen führt, kann er nicht einfach eines davon drastisch verändern, um sich neuen Trends zu unterwerfen. Jedes Modell muss im Gleichgewicht mit dem Rest der Produktpalette stehen – Harmonie und Zurückhaltung eben, kein Glücksspiel. Auf der anderen Seite haben die größten Akteure weitaus mehr Mittel zur Verfügung. Dadurch sind sie in der Lage, bei der Preisgestaltung mitzuwirken und innovative Designs zu entwickeln. Letztendlich brauchen wir beide: Die Champions, um die globale Nachfrage zu bedienen, die Bekanntheit zu erhöhen und neue Biker für den Sport zu begeistern. Und wir brauchen die unkonventionellen Außenseiter, die Wagemutigen – reaktionsfreudig genug, um die Giganten auf Trab zu halten.

Doch wo kommen nun all die Vorurteile her? Wenn man den Foren-Einträgen Glauben schenken möchte, könnte man meinen, dass große Firmen sich ihre Entwürfe von seelenlosen Computeralgorithmen ausspucken lassen, um uns 08/15-Bikes aufzutischen. Natürlich mag das in manchen Fällen zutreffen. Einige Hersteller sind so erfolgreich geworden, dass sie vergessen haben, wie Schweiß und Dreck schmecken und Erfolg nur noch in Geld und Verkaufszielen messen. Aber die überbezahlten Topangestellten sind noch immer in der Minderheit. Wenn man die „dicken Fische“ der Entwicklungsteams der großen Firmen dann persönlich trifft, stellen sie sich in den meisten Fällen als leidenschaftliche Biker heraus, die an den Wochenenden Rennen fahren, in der Mittagspause eine Runde drehen und Five-Tens unter ihrem Schreibtisch tragen. Was wir auch auf unseren Kanälen beobachten: Wenn wir Bikes von einem der Superkonzerne gegenüber einem kleineren – oder wagen wir mal zu behaupten „cooleren” – Hersteller bevorzugen, ernten wir nicht selten eine Welle der Empörung in den sozialen Medien. Schaut man sich einige der Kommentare zu unseren Beiträgen auf Facebook an, könnte man meinen, wir verbringen unsere Arbeitstage damit, uns bei Banketten an Buffets der Industriegiganten den Bauch voll zu schlagen. Sollten wir doch mal im Büro sein, dann sind unsere Füße entspannt hochgelegt auf unseren Marmorschreibtischen, während wir dem UPS-Kurier den Erhalt von säckeweise Bestechungsgeldern quittieren. In der Realität sieht es aber ganz anders aus: Wir sind genau wie ihr – wir wollen einfach die besten Bikes auf den schönsten Trails fahren.

  Jeder Champion war einmal ein Herausforderer, der sich geweigert hat, aufzugeben. [Rocky Balboa]

Versteht uns nicht falsch, auch wir lieben einen Außenseiter, aber man vergisst leicht, dass die Giganten der Branche nur aus einem einzigen Grund so groß werden konnten: Sie stellen wirklich großartige Bikes her. Mit gigantischen Ressourcen und einigen der besten Designern in der Branche stellen sie noch immer die Bikes her, welche es in den meisten Tests zu schlagen gilt. Um ein Champion zu sein, muss man sich reinknien – Erfolg ist immer hart erarbeitet, aber mit Riesenerfolg wird man automatisch zum Apollo Creed aus Rockys Geschichte. Wir alle lieben es, diesen Mann zu hassen, aber das ist okay, es entspricht einfach unserer Natur.

Dieser Artikel ist aus ENDURO Ausgabe #033

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Text: Trevor Worsey Illustration: Julian Lemme


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