Schließen sich Rivalität und Freundschaft aus? Hat man einen Nachteil, wenn man seine Trainingseinheiten mit der Konkurrenz teilt? Wir haben uns mit Ines Thoma vom Canyon Factory Enduro Team getroffen, um mit ihr über Freundschaft, Konkurrenzdenken und die Entwicklung der Enduro World Series zu sprechen.

Der Marktwert im Profisport bemisst sich in der Regel an einer Sache: dem eigenen Erfolg. An der Spitze sind die Gehaltsschecks dicker als am Ende der Ergebnistabelle. Doch um ganz oben zu stehen, muss man vor allem besser sein als die anderen. Kurz gedacht bedeutet das fast automatisch, dass man anderen ihren Erfolg eigentlich nicht gönnen darf. Von dieser Rivalität ist allerdings speziell im weiblichen Starterfeld der Enduro World Series nichts zu spüren. Vielmehr sieht man die Profis in der Offseason gemeinsam beim Trainieren in Italien, man sieht, wie sie sich zwischen den Stages supporten und am Ende gemeinsam auf ein gelungenes Rennwochenende anstoßen – wie kann das sein?

Zwischen Konkurrenzdenken und Freundschaft – wünscht man seinen Mitstreiterinnen am Start wirklich viel Erfolg oder nicht?

Eine, die es wissen muss, ist Ines Thoma. Die deutsche Teamfahrerin beim Canyon Factory Enduro Team, das wiederum zum neu gegründeten Canyon Collective gehört, stand seit 2013 bei jedem Rennen der Enduro World Series an der Startlinie und hat noch dazu alle gefinisht. Die einzige Ausnahme ist das Rennen in Aínsa/Spanien im letzten Jahr, an dem sie aufgrund einer Wirbelsäulenverletzung nicht teilnehmen konnte. Ines hat die Entwicklung des Enduro-Sports selbst live miterlebt. „In den ersten Jahren bin ich noch bei fast jedem Rennen mit zwei Helmen und einem Käsebrot im Rucksack an den Start gegangen“, erzählt sie in unserem Gespräch. „Auf den Transfers musste super viel pedaliert werden, alles fühlte sich an wie ein Abenteuer.“ Diese ersten Jahre der EWS waren geprägt von einer Findungsphase. Viel wurde ausprobiert, die Grenzen des Machbaren wurden ausgelotet. „Das härteste Rennen war das in Whistler vor einigen Jahren, bei dem wir über 2.500 Höhenmeter bewältigen mussten und es an der Feed-Station kein Wasser mehr gab. Die letzten zwei Stunden war ich bei über 30° ohne ein Getränk unterwegs“, erinnert sich Ines.

Auf der Stage kämpfst du nicht gegen die anderen, sondern gegen die Zeit, das Wetter und den Track.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Enduro World Series heute ein Zuckerschlecken wäre, aber sie ist anders. Heute fahren die Profis eher Multistage-Downhill-Rennen. Meist wird ein Großteil der Transfers geshuttelt. Alle starten nur mit einem Full-Face und zwei Energie-Riegeln in der Hosentasche. Wenn dann mal etwas schief geht, ist man fast automatisch auf Support angewiesen. So erzählt Ines, wie sie und andere Fahrerinnen z. B. einmal Anita Gehrig auf einem Rennen mit Wasser versorgt haben, weil sie auf einer Stage ihre beiden Trinkflaschen verloren hatte. Im Gegenzug bekam Ines von ihren Mitstreiterinnen auch schon mal einen Riegel oder Schlauch gereicht, als sie selbst darauf angewiesen war. Oder wurde 2018 in Finale, nachdem sie in der letzten Stage ihre Kette verlor, von den Gehrig-Twins an der Küstenstraße entlang ins Ziel gezogen.

Gemeinsam dem Finale entgegen – Ines wird ins Ziel gezogen!

Unvergessen ist auch die Szene, als Cécile Ravanel die vom Pech verfolgte Katy Winton nach einem Platten auf Stage 3 zurück zur Tech-Zone schob. „Am Ende hat jeder schon mal Hilfe gebraucht oder jemand anderem unter die Arme gegriffen, das gleicht sich alles aus“, meint Ines. Wer egoistisch nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, wird das spätestens dann bereuen, wenn er selbst ein Problem hat.

Gemeinsamer Kaffee statt Konkurrenz – immer mittwochs treffen sich die weltschnellsten Enduro-Fahrerinnen

Die meisten Fahrerinnen sind mittlerweile seit einigen Jahren in der Enduro World Series unterwegs. Man kennt sich, reist zusammen in unbekannte Länder und hat die gleichen Routinen. Das hat bei den Mädels mittlerweile dazu geführt, dass sie einen gemeinsamen Kaffee-Treff etabliert haben. Immer am Mittwoch zwischen zwei Rennen treffen sich z. B. Noga Korem (GT Bicycles), Cécile Ravanel (COMMENCAL), Isabeau Courdurier (Lapierre), Anita und Caro Gehrig (Norco), Andréane Lanthier Nadeau, kurz ALN (Rocky Mountain) und Ines zum gemeinsamen Kaffeetrinken. Generell gibt es in der EWS kaum Einzelgänger oder Grüppchenbildung und wenn, dann liegt das meist an einer Sprachbarriere, erzählt uns Ines.

Gemeinsam neue Länder erkunden – zusammen geht es bei der EWS einmal um die Welt

Warum es zwischen den Fahrerinnen und Fahrern so gut wie keine Rivalitäten gibt? Ines zufolge liegt das am Rennformat von Enduro. Dort laufen die Dinge ganz anders als z. B. bei den Cross-Country-Rennen, an denen Ines in ihrer Jugend teilgenommen hat: „Beim Cross Country stehst du neben deiner Konkurrentin an der Startlinie, du bist im direkten Zweikampf Mann gegen Mann bzw. Frau gegen Frau. Im Rennen gibt es immer wieder Konflikte, du kannst nicht überholen, wirst abgedrängt und fühlst dich ständig unfair behandelt. In so einem Umfeld ist es super schwer, Freundschaften zu entwickeln.“ Anders sieht es dagegen im Enduro-Racing aus. „Vor dem Rennen wünscht sich jeder noch viel Glück, danach fährt man erst mal für sich. Auf der Stage bin ich allein verantwortlich für meine Performance und während des Rennens weiß keiner, wo er im Overall-Tages-Ranking gerade steht“, sagt Ines. „So kämpft jeder für sich um die schnellste Linie, gegen das Wetter, die hohen Belastungen und letztlich auch um die schnellste Zeit. Abgerechnet wird dann erst im Ziel, hier zeigt sich, wer am schnellsten war und wo man selbst gelandet ist.“

Ines Thoma hat seit 2013 nur ein einziges EWS-Rennen ausfallen lassen – und das wegen eines gebrochenen Wirbels

Im Cross Country war es früher für Ines schwer, Freundschaften zu schließen, nicht so bei der EWS. Das liegt vor allem am Rennformat.

In der Offseason sieht man Ines häufig mit Anita und Caro Gehrig in Finale beim Trainieren oder mit anderen Fahrerinnen bei kleinen lokalen Rennen. „Wir gehen sogar ab und an zusammen ins Gym“, verrät uns Ines. „Dort sieht dann völlig automatisch jeder die Übungen des anderen, doch da wir alle anders ticken und unsere Körper auf das Training unterschiedlich reagieren, ist das auch kein Problem. Ich könnte z. B. nie Kastensprünge trainieren, dafür ist mein Knie viel zu sehr geschädigt.“ Vielmehr hilft der Zusammenhalt den Frauen auch hier, noch besser zu werden, sich gegenseitig zu pushen und über ihre eigenen Grenzen hinauszuwachsen.

Gute Laune nach einer langen EWS-Saison. Die Fahrerinnen der EWS beim Gala-Dinner in Finale Ligure.

Genau das ist es, was Enduro-Racing so besonders macht: Statt engstirnigem Konkurrenzdenken macht der gegenseitige Support alle stärker. Auf der Stage ist zwar jede Fahrerin auf sich gestellt und gibt ihr Bestes, doch davor und danach helfen sich alle und bauen sich gegenseitig auf. Freundschaft und Rivalität, verpackt in einem einzigartigen Format – darum lieben wir Enduro-Racing!


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Text: Fotos: Boris Beyer / Duncan Philpott / Enduro World Series