Innovation sucks! Ob MTBs, E-Mountainbikes oder Rennräder – nach wie vor kämpfen die Marketing- und Entwicklungsabteilungen der Hersteller um Superlative. Doch braucht es wirklich die minimalen Verbesserungen und scheinbar nie enden wollenden Performance-Steigerungen? Was macht Biker tatsächlich zufrieden und sorgt für langanhaltenden Trailspaß?

Dieses Jahr ist in der ENDURO-Redaktion vieles passiert, was nicht hätte passieren sollen. Bikes und Produkte werden bei uns schon immer intensiv getestet und – wie hin und wieder unsere Testfahrer auch – an ihr Limit gebracht. Doch dieses Jahr war anders. Aus exzellent funktionierenden Bikes und Komponenten sind nicht nur eine Menge Testeindrücke entstanden, sondern – leider – auch ordentlich Sondermüll. Von ausgeschlagenen Lagern, defekten Gabeln und Dämpfern bis hin zu unzähligen unbrauchbaren Laufrädern und fragwürdigen Lackschäden am Rahmen war alles dabei. Das galt nicht nur für Bikes unserer schwereren Testfahrer, die mit Lebendgewichten von knapp über 100 kg und EWS-Erfahrung ordentliche Belastungen für Trail und Material provozieren können. Auch Leichtgewichte, wie unser Chefredakteur mit 70 kg und bekanntlich sehr sauberer Fahrweise, vermeldeten ähnliche Totalausfälle an ihren Test-Bikes.

Was bringt uns der Glamour von Formel-1, EWS oder Tour de France im Alltag tatsächlich?

Was bringen 8,713 % mehr Hinterbau-Performance, wenn die Lager des komplexen Hinterbaus nach spätestens einem halben Jahr ausgeschlagen sind? Oder wenn mehr als 80 % der Biker die volle Performance durch fehlende Kenntnisse über das perfekte Setup gar nicht ausnutzen können? Als Biker haben wir den Luxus und das Privileg, fast genau das gleiche Material zu fahren, das die EWS-Topathleten, Tour de France-Sieger, Olympioniken und Weltcup-Stars bei ihren übermenschlichen Höchstleistungen einsetzen. Das ist faszinierend und sexy zugleich, hat aber meistens einen Haken: Dieses Material ist auf maximale Performance und intensiven Service ausgelegt, seltenst auf maximale Zuverlässigkeit und Haltbarkeit. Spitzen-Performance im Alltagsbereich bringt der breiten Masse an Usern kaum etwas, vor allem dann, wenn ein komplexes Setup und viel Pflege nötig sind.

Seit Jahrzehnten ist die Bike-Welt auf Performance versessen, und egal ob Marketing- oder Entwicklungsabteilung: Beide wollen schneller, höher, weiter, leichter, effizienter und in letzter Zeit auch spaßiger. Aber was, wenn der Fun bei einem Defekt nach einigen Monaten – oder sogar Tagen – ganz schnell zu Ende ist? Was, wenn der Service „suckt“ und man als Kunde wochenlang auf Ersatzteile oder Antworten warten muss? Liegt der Fokus der Bike-Welt zu stark auf dem Glamour der Höchstleistungen, den Marginal Gains und einer nie enden wollenden Performance-Steigerung – statt die simplen Probleme der User da draußen zu lösen? Schon immer hat man viele Biker mit falschem Setup über Trails und Bikepark-Strecken fahren sehen und in jüngster Bike-Boom-Zeit noch mehr.

Die Corona-Pandemie als Ausrede?

Fast alle Bike-Hersteller geben aktuell ihr Bestes. Fast alle stehen aktuell vor riesigen Herausforderungen, die sie so gut wie möglich zu meistern versuchen und dafür mit vielen Risiken, Unwägbarkeiten und unbekannten Variablen jonglieren. Das sollten wir ihnen hoch anrechnen und Respekt zollen, auch wenn das, was passiert, für uns als Kunden manchmal frustrierend erscheint. Konkret reden wir hier von Service, Lieferbarkeit, Qualität und Ersatzteilversorgung. Denn die Corona-Pandemie sorgt seit fast zwei Jahren für zahlreiche Turbulenzen, die einerseits neue vorübergehende Probleme verursachen, andererseits aber strukturelle, „alte“ Probleme der Bike-Branche sichtbar gemacht haben. Denn nur weil etwas über Jahre und Jahrzehnte funktioniert hat, heißt das noch lange nicht, dass es auch gut war!

Eine brutale Nachfrage auf der einen Seite, wechselnde Belegschaften, kurzfristige Produktionsstopps, maximal ausgelastete Fabriken, Materialengpässe und logistische Flaschenhälse auf der anderen – Hersteller ringen um super eng getaktete Produktionsslots, die kaum Zeit für Korrekturen im Fertigungsprozess zulassen. Diese Tatsache sorgt dafür, dass die Qualität sinkt. Denn faktisch hat kaum mehr ein Hersteller Zeit, den Fertigungsprozess für Tage oder Wochen aufzuschieben, um Detailverbesserungen und Korrekturen vorzunehmen, die sich während der Serienproduktion eines neuen Produkts ergeben haben. Die Fertigung ist zum gnadenlosen Business geworden, in dem die Big Player und Hersteller mit exzellenten, langjährigen Beziehungen gewinnen. Dennoch gilt: Wer seinen Produktionsslot aufgibt, muss sich hintenanstellen und warten, bis ein neuer frei wird – das kann in Anbetracht der langen Wartezeiten für manche Bike-Marke schlichtweg den Bankrott bedeuten. Wo früher ausgiebige Qualitätskontrollen oft für Korrekturen und damit verbundenen zeitlichen Verschiebungen bei der Produktion gesorgt haben, muss heute abgewogen werden, ob der Produktionsslot aufgegeben wird oder das Produkt dennoch auf den Markt kommt. Hinzu kommt der Aufbau neuer Produktionen und das Dilemma des Wachstums: Denn fast jede Skalierung hat mit Qualitätsproblemen zu kämpfen. Dass das aktuell alles zusammenkommt, potenziert die Probleme!

Der Teufelskreis der Bike-Branche

Bei vielen Herstellern galt: neues Jahr, neue Innovationen, neue Modelle. Kurze Produktzyklen – meist von nur einem Jahr – sind in der Bike-Industrie noch immer häufig anzutreffen, auch wenn zahlreiche Hersteller sich verstärkt von den klassischen Modelljahren zu verabschieden versuchen. Die Kunden und damit auch die Industrie selbst rennen in einem sich immer schneller drehenden Hamsterrad auf der Suche nach minimalen Verbesserungen, neuen Farben und dem Hype um den krassesten Shit. Biken hat sich zum Trendsport entwickelt und zieht in vielen Belangen der Modeindustrie gleich, in der Trends schneller kommen und gehen, als man schauen kann. Dabei geht es – sofern wir nicht um Siege bei Tour de France, EWS oder DH-Weltcup fahren – vor allem um eines: langanhaltenden Trailspaß. Oder um es in einem weiteren Trendwort zu sagen: nachhaltigen Trailspaß. Die gute Nachricht: Indem wir unseren Entwicklungs- und Kommunikationsfokus nur leicht verändern, können wir bereits vieles bewegen und Biken nachhaltiger machen. Denn bekanntlich bestimmt beim Käufermarkt die Nachfrage das Angebot.

Wir alle sollten uns deshalb fragen, was uns wichtiger ist:

  • Ultimativer Leichtbau oder lange Haltbarkeit?
  • Faszinierende Speziallösungen oder bewährte und leicht austauschbare Standardkomponenten?
  • Exklusivität und Bling-Faktor oder Zeitlosigkeit?
  • Robuste Ausstattung oder maximale Performance?

Standard ist die neue Innovation

Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung ist und sollte auch in Zukunft ein großes Thema für Firmen rund um den Globus sein – und zwar nicht nur für das Image. Dazu gehört eine Reihe an Maßnahmen, die ineinandergreifen – von Sourcing über Produktion, Lebensdauer und Reparierbarkeit bis hin zum Recycling. Dass wieder mehr Standards in der Bike-Branche Einzug halten, ist bereits absehbar. Die Lieferengpässe, der Bike-Boom und die enorme Nachfrage setzen viele Bike-Hersteller unter massiven Druck und bringen sie Teils an den Rand des Ruins. Die Folge: Bike-Hersteller fusionieren oder werden aufgekauft, was dafür sorgt, dass es immer weniger kleine Bike-Buden und immer mehr Bike-Konzerne gibt. Vor allem für die Core-Szene erscheint das als Schlag ins Gesicht, die Angst, von Managern in Anzügen gestaltet zu werden, ist mitunter nachvollziehbar. Doch man muss diese faktisch unaufhaltbare Entwicklung auch aus anderen Perspektiven betrachten. Denn das bedeutet nicht automatisch, dass eure lokale Lieblingsmarke in Zukunft nicht mehr verfügbar sein wird. Oft passieren Fusionierungen im Hintergrund und sorgen so für bessere Planbarkeit und größere Übereinstimmungen in Produktpaletten und Lösungsansätzen. Sie ermöglichen erst, dass diese Hersteller im Wandel der Branche am Leben bleiben können.

Ex natura sind Konzerne an Modellplattformen und mehr Standards interessiert. Dieses neue Interesse an Standards – wie wir sie auch aus der Auto-Industrie kennen – können dem Endkunden eine leichtere Ersatzteilbeschaffung bescheren, eine simplere Reparierbarkeit sicherstellen und im besten Fall auch für eine höhere Haltbarkeit sorgen. Denn im Schnitt besitzt ihr – also unsere Leser – eure Bikes ca. 3 Jahre, wie wir in unserer aktuellen Leserumfrage erfahren konnten. Die Lebensdauer, Qualität und Reparierbarkeit eines Bikes sollten mindestens genauso wichtige Verkaufsmerkmale sein wie dessen Performance. Hersteller müssen größeren Fokus legen auf die leichte Ersatzteilbeschaffung, das simple Instandhalten und den zusätzlichen Schutz eures Bikes, wie ab Werk angebrachte Lackschutzfolie, austauschbare Kunststoffteile und längere Wartungszyklen. Um nachhaltig und Ressourcenschonend zu handeln, braucht es einen generellen Sinneswandel – und die Konzerne! Denn es ist wie mit Bio-Nahrungsmitteln. Wer den Luxus hat, zum lokalen Bio-Bauern zu gehen, der darf sich glücklich schätzen. Doch kann man damit niemals die Welt retten, weil man mit den kleinen Bio-Bauern allein nie eine kritische Masse erreichen kann. Einen wirklichen Impact und Sinneswandel können nur die großen Konzerne leisten – in Fall der Lebensmittel Supermarktketten wie Aldi oder Lidl, das ist wenig sexy, aber faktisch ändert sich erst dann wirklich was.

Von minimalen Verbesserungen und höher, schneller, weiter haben wir selten etwas, wenn wir schon nach kürzester Zeit mit einer kapitalen Panne auf dem Trail liegen bleiben. Die ultimative Performance und Innovation sollten deshalb nicht über der Qualität, Lebensdauer und der simplen Ersatzteilbeschaffung stehen. Um das zu ändern, müssen die Konzerne ihre Macht ausspielen und durch einen Sinneswandel die Branche in die richtige Richtung lenken. Wir als Kunden können zwar nur mit unseren Kreditkarten mitreden, aber als geschlossene Community dennoch einen großen Impuls setzen.


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Text: Peter Walker, Robin Schmitt Fotos: Julian Lemme