Wie beeinflusst die Geburt eines Kindes das Leben von Spitzenathleten? Wie finden sie die Balance zwischen Familienleben und Training? Und wie geht man auf einem Rennen Risiken ein, während daheim die Familie wartet? Wir haben EWS-Racer und Familienvater Joe Barnes gefragt.

Die Werkstatt des liebevoll als „Clubhaus“ bezeichneten Gebäudes, das in Wirklichkeit nicht mehr ist als eine große Holzscheune, lässt sich am besten als „geordnetes Chaos“ beschreiben. Um mich herum sind die Regale turmhoch beladen mit Pokalen, Ersatzreifen und zahllosen Flaschen Bike-Reiniger. Die Werkbank ist mit einem Haufen Werkzeug bedeckt und ein 10 Wochen altes Baby schläft in einer Babyschale am Boden. Genau inmitten dieses organisierten Chaos steht Joe Barnes und bringt ein neues Schaltwerk an seinem knallgelben Orange Alpine 6 an.

Die Geburt eines Kindes verändert einfach alles. Arbeitsfreie Zeit finden, Geld zurücklegen und schlaflose Nächte sind nur eine Handvoll der Herausforderungen, denen Eltern gegenüberstehen. Nun stellt euch einmal vor, dass ihr nicht nur ein frisch gebackener Vater, sondern auch noch professioneller Mountainbike-Rennfahrer seid, der im Wettstreit auf einigen der härtesten Trails der Welt alles riskiert. Könntet ihr das Leben des Elite-Enduro-Rennfahrers und Vaters Joe Barnes auf die Reihe kriegen?

Joe, Fiona und Baby Bo bekommen es hin. Ich habe mich mit ihnen in ihrem Zuhause in den schottischen Highlands getroffen, um einen Einblick in das Alltagsleben des Daddys zu erhalten, der noch dazu das Hazzard Racing Team managt und für dieses Team auch selbst in Rennen antritt.

Doch wer ist Joe Barnes? Joe, auch bekannt als „Top Chief“, ist ein professioneller Enduro-Rennfahrer aus Fort William in Schottland. Bekannt ist Joe für seine Rennfahrkarriere, in der er des Öfteren Podiumsplätze einsackt, aber noch erfolgreicher ist er wohl mit seinen selbstgemachten Clips, die die Abenteuer der „Dudes of Hazzard“ dokumentieren und dabei den aberwitzigen Heldentaten einer kleinen Gruppe von Schottlands kreativsten und unterhaltsamsten Bikern folgen.

Nachdem er das neue Schaltwerk installiert hat, nimmt Joe behutsam das schlafende Baby hoch. Mit den Worten „Das ist Bo Barnes“ stellt er mir stolz seinen Sohn vor. Wir gehen eine Reihe knarzender Holzstufen hinauf und die Wände neben mir sind geschmückt mit Startnummern, einige davon noch immer besprenkelt mit eingetrocknetem Matsch vom anderen Ende der Welt. Durch die Tür am Ende der Treppen betreten wir Joes Büro, das zugleich als Fitnessraum fungiert. Direkt neben einem Fenster mit Blick auf die sich abzeichnenden Bergflanken befinden sich Joes Schreibtisch und sein Computer, an dem all die „Dudes of Hazzard“-Videos zum Leben erweckt werden. Er zeigt mir ein paar Szenen seiner neuesten “Hazzard Racing” Kreation, eine typische Joe Barnes-Produktion mit purem Mountainbiken und ein paar dazwischen gestreuten Albernheiten als Zugabe. Genau hier unterhalten wir uns über Joes Leben und gehen ganz zum Anfang zurück.

Joe fing mit dem Mountainbiken an, als seine Familie aus dem Lake District nach Fort William zog. Er war damals gerade fünf Jahre alt. Wie die meisten von uns begann Joe mit dem Biken, weil es eine spaßige und zugängliche Freizeitbeschäftigung war. „Ich denke, es hat einfach Spaß gemacht, mit Schrotträdern auf dem Campingplatz herumzufahren, wo ich aufgewachsen bin“, sagt er lächelnd und überreicht mir ein Foto von sich selbst, wie er auf einem alten Bike im Wheelie über den Campingplatz rollt, ohne Helm und dem Anschein nach völlig unbekümmert.

Ich denke, es hat einfach Spaß gemacht, mit Schrotträdern auf dem Campingplatz herumzufahren, wo ich aufgewachsen bin

Der Spaß verwandelte sich jedoch schnell in Leidenschaft, als Joe Zeuge des Downhill-Worldcup-Stopps in Fort William wurde, der nur wenige Kilometer die Straße herunter am Nevis Range stattfand. Bei solch einer Nähe zu einer der kultigsten Downhill-Strecken der Welt scheint es, als sei es Joe schon immer vorbestimmt gewesen, sich in den Sport zu verlieben. Bald darauf erwarb er sein erstes Downhill-Bike, ein altes Orange Patriot, und begann im Alter von 14 Jahren Rennen zu fahren. Joe nahm als Junior an der National Series der Scottish Downhill Association teil, visierte jedoch bald internationale Rennen an. Mit seinem Vater folgte er dem Rennzirkus um den Erdball und lernte dabei die wichtigste Lektion seiner Junioren-Jahre: Rennfahren ist nicht immer leicht und manchmal sind es genau die Rennen, auf die man sich am meisten freut, die mit Enttäuschungen enden. „Ich mochte es stets, beim Weltcup in Fort William anzutreten, aber ich war nie besonders gut, daher war es immer eine ziemliche Hassliebe“, erinnert sich Joe.

Als die Enduro World Series startete, wusste Joe, dass das ein Event war, das seinen Stärken in die Karten spielte, und noch dazu eine Chance, die es nicht zu verpassen galt. Als sehr technischer Fahrer bevorzugte er die langen, steilen und ruppigen Stages gegenüber den kurzen Bikepark-Strecken, die im Downhill-Worldcup allzu sehr zur Gewohnheit wurden.

Das neue Enduro-Rennformat lag ihm ganz klar und Joes Resultate wurden schnell wahrgenommen. Er unterschrieb für die 2013er-Saison beim Canyon Factory Racing Enduro-Team und während der folgenden sechs Jahre trug er die Standarte der deutschen Direktvertriebsmarke während seiner Wettkämpfe in der EWS. Wenn man mit ihm über einige seiner persönlichen Highlights spricht, stünden zahlreiche Podiumsplätze, Stage-Siege und herausragende Resultate zur Auswahl, doch für Joe ist es schlicht das beste Gefühl, wenn es beim Biken einfach „Klick“ macht.

Das Jahr 2019 brachte schließlich einige große Veränderungen für Joe. Er verkündete seinen Abschied von Canyon, um sein eigenes Programm namens Hazzard Racing zu realisieren – mit handverlesenen Sponsoren, einem brandneuen Bike und dem Aufbau seines eigenen Teams. Kurz nach dem Teamwechsel fand ein sogar noch bedeutenderes Ereignis statt: Bo Barnes wurde im März 2019 geboren. Es mag zwar so aussehen, als wäre das Zusammentreffen seines Tapetenwechsels mit der Geburt seines ersten Kindes geplant gewesen, aber Joe erzählt mir dazu: „Um ehrlich zu sein, war es einfach Zufall, dass die zwei Dinge parallel stattfanden, aber letztendlich hat alles wirklich super gut funktioniert.“

Man muss doch ein Vorbild für den kleinen Mann sein, oder nicht? Man muss es einfach laufen lassen.

Doch wie beeinflusst die Geburt eines Kindes die Prioritäten von jemandem, dessen einzige vorherige Verantwortung es war, verdammt schnell auf einem Bike unterwegs zu sein? Während ich Joe dabei beobachte, wie er Bo liebevoll in seinen Armen wiegt, erklärt er mir, dass das schrittweise Aufbauen seines neuen Teams in Wirklichkeit einen größeren Einfluss auf sein Training und seinen Renn-Kalender hatte als die familiäre Situation: „Ich habe diesen Winter definitiv weniger trainiert, aber das liegt mehr an der Organisation des Teams als an der Familie. Ich denke, momentan befinde ich mich auf dem Trainingsstand des letzten Jahres … Aber ich würde alles trotzdem noch einmal genauso machen.“

Ein viel diskutiertes Thema bei meinen Freunden mit eigenen Kindern ist, wie sich die Risikobereitschaft beim Biken verändert hat, seit sie ein Kind bekommen haben. Für viele hat sich die eigene Risikowahrnehmung verändert und sie fühlen sich weniger wohl dabei, ihre Grenzen auf dem Bike auszuloten. Ich erwähne das auch Joe gegenüber und bin zunächst ziemlich überrascht von seiner Antwort: „Nein, bis jetzt hat sich das noch nicht so angefühlt. Das steht bei mir gedanklich definitiv nicht im Vordergrund, wenn ich etwas Riskantes mache“, lacht er und fährt fort: „Man muss doch ein Vorbild für den kleinen Mann sein, oder nicht? Man muss es einfach laufen lassen.“

Doch nach genauerer Überlegung ergibt das durchaus Sinn. Ein Rennfahrer wie Joe hat seine gesamte Karriere damit verbracht, auf dem schmalen Grat des Risikos zu wandeln, und kennt seine Grenzen weitaus besser als der Rest von uns. Joe erklärt: „Ich fühle mich ohnehin nicht wie jemand, der übertriebene Risiken eingeht. Ich bin immer ein wenig zu dosiert gefahren, was in meinen Augen eigentlich eine ziemliche Schande ist … Andererseits bin ich einer der wenigen Menschen, die an allen EWS-Events teilgenommen haben, bis auf die beiden, die ich dieses Jahr verpasst hab – das dürften so um die 49 aufeinanderfolgenden Rennen sein, die ich alle gesund und mit konstant guten Ergebnissen beendet habe.“

Während wir Bo stillschweigend beobachten, beginnt er, sich zu bewegen und aufzuwachen. Wird Bo Barnes in die Fußstapfen seines Vaters treten? Jeder Elternteil, der etwas von ganzem Herzen liebt, träumt davon, dass sein Kind mit derselben Leidenschaft geboren wird und Joe ist da nicht anders. „Ich fürchte, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht versuchen werde, ihn zum Radfahren zu bekommen“, erzählt er mir. „Probier’s ruhig mit Fußball, das ist genauso gut wie Biken, haha“, meint Joe sarkastisch zu Bo. Und dann schiebt er noch etwas nach, so als wollte er sichergehen, dass der Junior ihn auch ja nicht missversteht: „Es ist definitiv nicht annähernd so schön!“

Ich verabschiede mich von Joe und Fiona und reiche dem kleinen Mann meinen Finger zum Abschied. Bo streckt seine Hand aus und umklammert meinen Finger mit einem festen Griff. Er starrt mir in die Augen und vielleicht kommt es mir nur so vor, doch ich sehe in seinen Augen die glühende Entschlossenheit eines zukünftigen Champions.

Wir wollen einen besonderen Dank an Joe, Fiona and Bo aussprechen: Dafür, dass sie uns empfangen und einen Einblick in ihr Privatleben gegeben haben. Alles Gute für euch!


Dieser Artikel ist aus ENDURO Ausgabe #039

Das ENDURO Mountainbike Magazin erscheint auf Deutsch und Englisch im digitalen App-Format. Ladet euch jetzt die App für iOS oder Android und lest alle Artikel auf eurem Tablet oder Smartphone. Kostenlos!


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als ENDURO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die Mountainbike-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text & Fotos: