Ausgabe #047 Special

Kopie oder Original? Ein Essay über Entscheidungen, die wir alle jeden Tag aufs Neue treffen

„Wir alle werden als Original geboren, doch sterben meist als Kopie.“ Egal ob dieser Satz nun von Edward Young oder von Arno Gruen stammt, er bringt auf den Punkt, dass wir uns doch zu oft im Leben von dem Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz leiten lassen und dabei auf Autopilot vor uns hin leben. Geht das auch anders?

Kennst du das Gefühl beim Autofahren, wenn du in Gedanken versunken eine Strecke fährst und auf einmal wieder zu Bewusstsein kommst? Alles hat wie ferngesteuert perfekt geklappt, du hast deine Spur gehalten, fragst dich aber, was in den letzten 5 min eigentlich passiert ist? Das Leben ist unglaublich gut darin, uns durchs Leben zu führen. Der Autopilot kann helfen, uns den Alltag zu erleichtern, indem wir einfach funktionieren, auch wenn wir mit den Gedanken woanders sind. Ob man jedoch im Autopiloten-Modus an der Landschaft vorbeirast, ohne ihre Schönheit überhaupt zu sehen, oder ob man sich entscheidet, die Fahrt in vollen Zügen zu genießen – das liegt an uns! Fakt ist: Wenn das Hamsterrad einen gefangen hält, jeder Tag gleich erscheint und die Zeit wie im Fluge zu vergehen scheint, dann ist es höchstwahrscheinlich, dass der Autopilot das Steuer übernommen hat. Bemerkt man das, ist man um eine wichtige Erkenntnis reicher, und vielleicht ist es an der Zeit, anzuhalten und sich zu fragen: Wie will ich mein Leben eigentlich leben?

Mountainbiken wird dich nicht glücklich machen, wir dich auch nicht

Ja, die tollen Bilder und Storys von uns, von anderen Magazinen, auf Instagram oder YouTube versprechen das große Glück, die Freiheit und jede Menge Spaß. Und ja, Mountainbiken ist einer der besten Schlüssel dafür, aber nur, wenn du mit allen Sinnen dabei bist. Denn der gleiche Stress, dem viele von uns im Alltag zu entfliehen versuchen, holt uns auf dem Bike doch häufig ein: Die routinierte Feierabendrunde vergeht wie im Fluge, weil die Gedanken noch bei der Arbeit oder schon beim Partnerstress zu Hause hängen. Der Gruppenzwang, das neueste 29”-Bike oder das geilste und am goldensten schimmernde oder regenbogenfarbene Bauteil zu fahren zwingt dich in eine Wettbewerbsspirale. Und dann ist dein Kumpel oder der random Typ mit dem hässlichen Helm und dem billigen Bike von 2019 doch schneller als du! Ja, der Vergleich treibt uns Menschen zu immer neuen Leistungen und Rekorden an, aber er macht auch schnell unzufrieden, weil man pausenlos darauf schaut, was man ausgerechnet nicht hat, statt sich an dem zu erfreuen, was man alles besitzt und wie glücklich man sich schätzen kann. Mit der Realität hat das oft noch nicht mal viel zu tun. Dieses Karussell der selbst verursachten Unzufriedenheit ist an wenigen Orten so offensichtlich wie auf Instagram – und dort schaut man bei allem zu, nur nicht beim echten Leben! Scheiße, oder?

Lebe achtsam und bewusst!

Das soll hier keine Tirade gegen jegliche Technologien und Plattformen sein, alles im Leben hat seine guten und schlechten Seiten. Wir sind jedoch Fans davon, sich aktiv für etwas zu entscheiden. Was man gerade wahrnimmt, beeinflusst die eigene Stimmung – unabhängig davon, ob man gerade bikt, auf der Schüssel sitzt oder eine 15-Stunden-Schicht im Office schiebt. Nimmst du die ganze Coronawolke und alle damit einhergehenden Nachrichten wahr, dann erfüllt dich das. Nimmst du die Sorgen vor dem morgigen Zahnarzttermin wahr, dann erfüllt dich das und tut dir jetzt schon weh, obwohl noch nicht mal ansatzweise ein Bohrer in deinem Mund steckt. Und nimmst du das Zwitschern der Vögel im Wald wahr, das Quietschen deiner schlecht geölten Kette und die frische Brise Wind, die durch den Wald rauscht, dann erfüllt dich das. As simple as that. In der Theorie zumindest, denn auch auf dem Bike bist du natürlich nicht davor gefeit, deine Gedanken dem Zahnarzt, der Arbeit oder sonst was zu widmen! Und das ist die Krux – obwohl wir das Wellness-Programm gebucht haben, ist aufgrund unserer Wahrnehmung manchmal gar nicht so viel mit Wellness. Die Lösung? In jedem Eso-Büchlein steht es bereits hundertfach, aber es stimmt: Akzeptiere das Hier und Jetzt. Nimm es an. Du kannst in diesem Moment, in dem du diese Zeilen liest, nirgendwo anders sein. Du hast dich dazu entschlossen, diesen Text zu lesen, dann tu es auch und gib dich ihm hin. Und wenn du nicht mehr magst, dann ändere etwas. Um es mit den Worten von Laurie Buchanan zu sagen: „Whatever you are not changing, you are choosing.“ Lies das gerne noch mal!

Indem wir uns einer Sache voll und ganz hingeben, fünfe mal gerade sein lassen und versuchen, uns bewusst auf das zu konzentrieren, was wir gerade machen, finden wir Erfüllung. So machen wir uns glücklich. Ein neues Mountainbike, ein neues Outfit oder ein neuer Helm wird das selten tun können. Sie können zwar Impulse setzen, neue Türen und Perspektiven öffnen, aber am Ende entscheidet unsere Einstellung und Wahrnehmung darüber, was es in uns bewirkt.

Empower yourself: Wage das Original in dir!

Die US-amerikanische Filmlegende und vierfache Oscar-Preisträgerin Katharine Hepburn wurde zwar stolze 96 Jahre alt, wusste aber: „Life is hard. After all, it kills you.“ Warum also nicht die Zeit richtig nutzen? Jede und jeder Einzelne von uns hat eine eigene Geschichte, eigene Vorlieben, Wehwehchen und Themen – und das ist auch gut so. Denn das ist ein individueller Teil, den jede und jeder von uns in sich trägt.
Doch allzu häufig unterdrücken wir diesen Teil. Vielleicht weil es auf der Arbeit so gefordert wird: „Reißen Sie sich am Riemen – Emotionen und Privates haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen!“ Als ob man einen Menschen vierteilen könnte, Arbeitszeit keine Lebenszeit wäre und ein Mensch in seiner komplexen Ganzheit nicht mehr er selbst sein darf, sondern in Teilen verboten werden könnte. Klar, nicht alles sollte natürlich auf die Arbeit mitgenommen werden, aber Unterdrückung hat noch niemandem gutgetan und sorgt irgendwann für eine Revolte!

Das Perfide: In jeder Subkultur, in jedem Milieu passiert das Gleiche. Nur ist man sich dessen weniger bewusst als vielleicht auf der Arbeit. Egal ob Enduro-Racerin, Uhren-Fanatiker, Kaffee-Connaisseur, 911-luftgekühlt-Liebhaber oder Rapha-Roadie: Wir zelebrieren die Individualität, die Einzigartigkeit der Szene, passen uns aber gleichzeitig einer Subkultur, ihren Regeln und Etiketten extrem an. Dazuzugehören ist wichtiger als sich zu entfalten. Und dann spricht man halt doch lieber nicht über den eigenen Musikgeschmack, sein anderes Hobby oder Sonstiges, was nicht dem Tenor der Gruppe entspricht. Natürlich ist es einfacher, mit dem Strom zu schwimmen. Wer schon mal im Fußballstadion war – als Biker eher unüblich! –, der weiß, wie krass und erleichternd sich Gruppendynamik anfühlen kann. Schließlich muss man sich über Richtig und Falsch keine
Gedanken mehr machen. Man macht einfach mit, und das Gehirn geht in den Stand-by-Modus.

Wichtig: Individualität und Originalität heißt nicht zwangsläufig, am buntesten, lautesten und „andersten“ durchs Leben zu rennen. Vielmehr bedeutet es, den Weg zu gehen, der einen glücklich macht. Man ist eben nicht nur Biker, sondern vor allem Mensch – mit (hoffentlich) einer Vielzahl an Interessen. Und den Respekt und die Toleranz, diese individuellen Facetten auszuleben und zu ihnen zu stehen, sollten wir jeder und jedem entgegenbringen.

Autonomie oder Autopilot?

Jetzt ist die beste Zeit, sich auf das zu fokussieren, was man hat, und nicht auf das, was man gerade nicht oder nur schwer tun kann – z. B. nach Whistler zu reisen! Abschalten und zur Ruhe kommen hilft uns zu merken, dass man wahres Glück nicht suchen, sondern nur finden kann. Und dass die Antwort auf das, was wir suchen, meist in unserem Inneren liegt. So ist es auch mit dem Original: Autonomie hat wenig mit Macht zu tun, sondern mit dem Mut und Vertrauen, zu sich zu stehen und in voller Übereinstimmung mit
seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen seinen eigenen Weg zu gehen. Das Originale steckt bereits in uns, die Frage ist nur: Brettern wir im Autopiloten-Modus die Autobahn entlang und kopieren das, was andere machen und schon immer gemacht haben? Oder leben wir das Leben bewusst, nutzen unsere Anlagen und Talente und schöpfen unser Potenzial aus? Schaltet man den Autopiloten häufiger mal ab, merkt man, wie viele Optionen und Chancen das Leben bietet – und dass man es auch in diesen Zeiten nach Whistler schafft, wenn man es wirklich will: Vouloir, c’est pouvoir.

Vielleicht merkt man aber auch, dass der Whistler-Wunsch eigentlich für etwas ganz anderes steht, das man genauso gut auf den Hometrails und in sich selbst finden kann.

Tipps, wie du den Autopiloten abschaltest

Kopfkino, Adieu! Zurück ins Hier und Jetzt

  • Tief in den Bauch einatmen und ganz langsam ausatmen, ohne Anstrengung. Der Trick funktioniert bei Lampenfieber genauso wie in jeder anderen Lebenssituation!
  • Crashe: Nein, ehrlich gesagt empfehlen wir niemandem zu crashen, aber ein kleiner Sturz auf dem Bike holt dich voll und ganz in die Gegenwart. Dein Verstand hat gar keinen Kopf dafür, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.
  • Spring ins kalte Wasser – wenn man nicht gerade Warmduscher ist, ist das vermutlich die humanere Form, vollkommen den Körper zu spüren und präsent zu werden als Crashen.
  • Vor der Abfahrt innehalten, Wald oder Aussicht genießen und tief durchatmen.
  • Nicht sofort auf Insta schauen oder posten, mach mal halblang. Komm an, nimm die Umgebung wahr.
  • Bike-Talk: Hör richtig zu oder fahr weiter, aber bleib nicht zwanghaft in Diskussionen stecken, auf die du selbst keine Lust hast.
  • Handy mal zu Hause lassen, dann kommst du nicht in Versuchung, dich von Social Media und Co. oder dem Fotomachen ablenken zu lassen.

Stell dich deinen Ängsten. Verspürst du Angst oder Hemmungen, frag dich

  • Was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Kannst du dich damit abfinden?
  • Was würdest du tun, wie würdest du dich verhalten, wenn niemand zuschauen würde?

Dankbarkeit

  • Wenn dir gerade etwas fehlt, frag dich: Kannst du ohne es leben? Wie hast du damit gelebt, als du es noch nicht hattest?
  • Werd dir bewusst, was du alles hast, statt dich auf das zu fokussieren, was du gerade nicht hast oder kannst.

Jeden Tag kommen wir immer wieder neu in eine Situation oder an einen Punkt, an dem wir uns unweigerlich fragen müssen: Wollen wir gelebt werden oder leben wir uns aus – genau so, wie wir sind? Wählen wir die scheinbare Sicherheit des Vertrauten und ordnen uns unter, oder wagen wir es, das Original in uns auszuleben? Egal für was ihr euch entscheidet, denkt an Katherine Hepburn: Einen Tod muss jeder sterben. Und am besten tut man das nicht als Kopie.


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Text: Robin Schmitt Fotos: Illustration – Julian Lemme

Über den Autor

Robin Schmitt

Robin ist einer der zwei Verlagsgründer und Visionär mit Macher-Genen. Während er jetzt – im strammen Arbeitsalltag – jede freie Sekunde auf dem Bike genießt, war er früher bei Enduro-Rennen und ein paar Downhill-Weltcups erfolgreich auf Sekundenjagd. Nebenbei praktiziert er Kung-Fu und Zen-Meditation, spielt Cello oder mit seinem Hund (der eigentlich seiner Freundin gehört!), bereist fremde Länder und testet noch immer zahlreiche Bikes selbst. Progressive Ideen, neue Projekte und große Herausforderungen – Robin liebt es, Potenziale zu entdecken und Trends auf den Grund zu gehen.