In den letzten Jahren hat sich im Endurobike-Design eine ziemliche Geometrie-Revolution vollzogen und die Marketingabteilungen der Branche übertrumpften sich gegenseitig im Herausbrüllen der immer gleichen Botschaft: „Wer schnell sein will, braucht ein Bike mit langem Oberrohr und flachem Lenkwinkel.“ Die Stimmen waren so laut, dass viele Fahrer mit dem Maßband in die Garage rannten und nach einigen hastig ausgeführten Berechnungen meinten: „Deshalb kriege ich keine Strava-KOMs, mein Bike ist 15 mm zu kurz!“

Ist das alles nur ein Hype? Sind längere und flachere Bikes tatsächlich besser? Werden unsere Bikes einfach nur länger und flacher, oder steckt noch mehr dahinter? Wenn wir die Räder, die wir heute fahren, mit denen von vor 10 Jahren vergleichen, dann ja – da hat sich einiges verändert. Die Bikes haben nun einen längeren Hauptrahmen (vom Tretlager bis zum Steuerrohr) und einen längeren Radstand, der Lenkwinkel ist flacher geworden und der Sitzwinkel steiler. Und sind sie besser? Ja verdammt, das sind sie! Doch wie sieht es mit dem Innovationspotenzial heutiger Bikes aus? Abgesehen von ein paar Außenseiter-Firmen, die ihr eigenes Ding durchziehen, hat sich die Innovation in Sachen Geometrie ziemlich entschleunigt. Die meistgekauften Bikes unterscheiden sich kaum, ähnlich wie bei modernen Autos oder Motorrädern. Wenn man mal die Historie der Marken und ihre unterschiedlichen Hinterbausysteme beiseitelässt und die Bikes auf ihre nackten Kennzahlen und Maße reduziert, dann bleibt da nicht mehr viel, denn die meisten basieren auf einem sehr ähnlichen Konzept. Wir haben ein Geometrie-Ideal erreicht, das in den meisten Situationen für die meisten Fahrer eine gute Performance bietet. Und obwohl es meist immer noch eher konservativ ist, sind viele Hersteller sehr darauf bedacht, ihre Designs mit dem überhypten Slogan „Long, low and slack“ zu versehen.

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Werden Rennen mit extremen Geometrien gewonnen?

Wie verhält es sich also mit den Bikes, mit denen derzeit die Rennen gewonnen werden? Wo kann man die Räder der Top-Profis beim Geometrie-Vergleich einordnen? Bikes wie das Yeti SB6c, das Santa Cruz Nomad, das YT CAPRA und das Canyon Strive haben ihre Potenz auf den Stages der Enduro World Series unter Beweis gestellt, da müssen diese Killerbikes doch die Könige im Reich von Long-and-Slack sein? Überraschenderweise nicht, sie sind sogar weit davon entfernt. Diese erfolgreichen Räder befinden sich in der Mitte, sie sind weder extrem kurz noch extrem lang. Es gibt auf dem Markt Bikes mit viel extremeren Dimensionen. Das sind aber die Außenseiter, die sich von der bewährten Formel entfernt haben und Neues wagen. Marken wie NICOLAI, Mondraker, Pole und Whyte produzieren Bikes, die so lang und flach sind, dass sie die Konkurrenz aussehen lassen wie aufgepumpte BMX-Räder. Sind sie dabei zu weit gegangen?

Was ist das überhaupt, ein „normales“ Endurobike?

Bevor wir über die Entwicklungen reden, brauchen wir ein Verständnis davon, wie ein „normales“ Endurobike aussieht. Wir haben 25 der beliebtesten Endurobikes mit 150–160 mm Federweg analysiert, jedes Rohr und jeden Winkel vermessen, und die Daten evaluiert. Die wenigen sehr extremen Konzepte wie das Pole und das NICOLAI GEOMETRON haben wir ausgeklammert und kamen zu einem Ergebnis. Es ist, wenn man so will, die kollektive Blaupause für ein modernes Endurobike. Wir können mit einiger Sicherheit sagen, dass das Durchschnitts-Enduro in Größe L im Jahr 2016 einen Radstand von 1.202 mm hat, eine Kettenstrebenlänge von 431 mm, einen 65,8°-Lenkwinkel und einen Reach von 453 mm. Es ist verblüffend, wie viele der Bikes, die derzeit auf dem Markt sind, sehr nah an diesen Werten liegen. Eines gab es, das richtig nah dran war: Das FOCUS SAM repräsentiert mit seinen Eckdaten von 1.198 mm, 430 mm, 65,8° und 452 mm fast exakt dieses „kollektive Idealbike“. Doch was ist mit Bikes, die sehr viel extremere Ansätze verkörpern?

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Wozu braucht man ein langes und flaches Bike?

Wenn sich der Großteil der Hersteller offensichtlich auf einen Mittelwert geeinigt hat, warum dann überhaupt extrem lange und flache Bikes fahren? Wir müssen uns nur den Unterschied zwischen einem DH- und einem XC-Bike ansehen, um zu verstehen, welchen Nutzen ein flacherer Lenkwinkel bringt. Ein Bike mit flacherem Lenkwinkel fühlt sich weniger nervös an, es ist sicherer und laufruhiger in ruppigem Gelände und es schüchtert weniger ein, wenn der Trail steil nach unten zeigt. Indem man das Vorderrad weiter weg von den Händen des Fahrers platziert, sorgt man für mehr Kontrolle auf steilen Abfahrten und dafür, dass Schläge weggeschluckt werden, ohne dass der Fahrer den Schwerpunkt zu weit nach vorne verlagern muss. Chris Porter, der Chef-Rebell der „Long-and-slack-Fraktion“ und die Inspiration für das NICOLAI GEOMETRON, erklärt: „Meine Sichtweise ist, dass die Front lang genug sein und das Vorderrad weit genug entfernt liegen muss, dass der Fahrer sich nach vorne in die Kurve lehnen und bis zu einem gewissen Maß auch durch den Lenker Gewicht auf das Vorderrad bringen kann. Ein kurzer Hauptrahmen zwingt einen automatisch, mit den Füßen Gewicht aufs Vorderrad zu bringen, wodurch man nicht die Wahl hat, sich nach vorne zu lehnen und das Gewicht beim Bremsen nach vorne fallen zu lassen. Wenn man versucht, so ein Bike bei hoher Geschwindigkeit in nach vorne geneigter Position um Kurven zu steuern, ist der Raum hinter dem Laufrad für den Fahrer zu knapp.“ Doch man kann es auch übertreiben – ein extrem flacher Lenkwinkel ist bei aggressivem Fahrstil in sehr steilem Gelände sicher top, doch bei alltäglicheren Geschwindigkeiten oder in weniger technischem Gelände wird der treibende Rocksong schnell zum Europop-Desaster. Superflache Bikes fühlen sich bei weniger Tempo und auf sanfteren Trails lethargisch und tot an und klettern Anstiege nur sehr gemächlich hoch, wobei das Vorderrad oft von einer Seite zur anderen kippt. Mit ihren Radständen von 1.314 bzw. 1.325 mm und mit Lenkwinkeln von 63,5° sind das Pole EVOLINK und das NICOLAI GEOMETRON mehr als 13 cm länger als das Santa Cruz Nomad in L, und 2,5° flacher – ungeheuer viel in einer Welt, die sich über Minimalwerte definiert. Ob das Konzept dennoch aufgeht, aufgeht, hängt zum Großteil vom Fahrer ab.

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Nicht die Länge ist entscheidend, sondern was man damit macht!

Die Länge des Hauptrahmens ist wichtig. In den letzten drei Jahren sind die meisten Bikes um 20 bis 40 mm gewachsen, was den Fahrern Bewegungsspielraum auf dem Bike gewährt, allerdings: Ein langes Front Center (vom Tretlager zum Steuerrohr) garantiert nicht automatisch ein besseres Handling. Ein gutes Handling ist ein Produkt aus vielen Faktoren – nicht die Länge ist entscheidend, sondern was man damit macht! Canyon Product Manager Daniel Oyster meint hierzu: „Es hängt alles davon ab, welche Trails man in welcher Geschwindigkeit fährt und ob man seinen Schwerpunkt auf schnelle Zeiten legt oder einfach aufs Spaßhaben. Längere Bikes bieten mehr Laufruhe und ein längeres Front Center hilft besonders bei steilen Abfahrten. Bei einer zentralen Position auf einem langen Bike braucht man sich nicht so viel zu bewegen, was auf schnellen Trails hilfreich ist. Wenn man ein kürzeres Bike mit einem kürzeren Front Center fährt, muss man sich einfach generell mehr bewegen, um die Kontrolle zu behalten. Allerdings sind längere Bikes auf flacheren und kurvigen Trails, wo das Tempo generell niedriger ist, anstrengender zu fahren, da man das Bike mehr pushen muss. Deshalb haben wir unterschiedliche Geometrien für unterschiedliche Disziplinen. Das Spectral ist z. B. kürzer als das Strive, damit es agiler ist, denn schließlich ist es eher als spaßiges Trailbike gedacht und weniger als Enduro-Racebike. Es geht immer darum, die richtige Balance zu finden.“

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Was spricht gegen einen superlangen Hauptrahmen, gepaart mit ultrakurzen Kettenstreben?

Während die Front Center der Bikes kontinuierlich länger geworden sind, wurden die Kettenstreben kürzer. Die Verbreitung von 1-fach-Antrieben hat die Designer von der Notwendigkeit eines Umwerfers befreit und damit Raum geschaffen, das Hinterrad näher ans Tretlager zu bringen. Bei den Enduro-Bikes in unserer Stichprobe lagen die Kettenstreben zwischen ultrakurzen 420 und recht langen 455 mm – wobei die meisten Hersteller sich für einen mittleren Wert entschieden haben. Kürzere Kettenstreben machen ein Bike tatsächlich besser manövrierbar, ultrakurze Kettenstreben beeinflussen die Fahrerposition und verlagern mehr Gewicht über das Hinterrad, weg von der Front. In Kombination mit einem sehr langen Hauptrahmen, wie beim Canyon Strive (Race Geometry) oder beim Whyte G-160, werden weniger aggressive Fahrer aber Schwierigkeiten haben, in Kurven Gewicht auf das Vorderrad zu bringen, etwa so, als würde man ein Auto von der Rückbank aus fahren müssen. Es handelt sich hier um Racebikes durch und durch, und um wirklich brillieren zu können, erfordern sie eine sehr aggressive Attack-Position, was für Hobby-Fahrer oft nicht machbar ist. Für die meisten Fahrer ist die Balance das Wichtigste und deshalb ist es wenig überraschend, dass die Mehrheit der großen Marken die Finger von Extremen lässt.

Glaubt nicht dem Hype, die Balance ist entscheidend!

Also ist das vielleicht die Antwort: Es geht nicht nur um „lang und flach“ oder „lang oder kurz“, sondern um die Balance. Während wir uns durch Unmengen an Geometrietabellen, Radstand-, Winkel-, Reach- und Kinematikdaten wühlten, wurde deutlich, dass die Hersteller mit der größten Marktmacht oft die sind, die in der Mitte liegen – progressiv genug, um als „aggressiv“ zu gelten, aber auch konservativ genug, um nicht zu extrem zu wirken und normale Fahrer nicht abzuschrecken. Eher Led Zeppelin als Bryan Adams, aber definitiv nicht Iron Maiden. Am Ende gibt es kein magisches Rezept, „gutes Handling“ lässt sich nicht durch eine oder zwei Dimensionen alleine definieren, sondern besteht in einer symbiotischen Beziehung aus Fahrer und Bike. Auf dem Trail ist die Geometrie nicht mehr durch statische Dimensionen bestimmt, sondern verändert sich permanent, denn wenn wir Gewicht auf die Pedale verlagern und durch Kurven fahren, ändern sich die Zahlenverhältnisse, das Gewicht wird nach vorne oder nach hinten gedrückt, und dann spielen das Design und das Fahrwerkssetup eine zentrale Rolle. Nur weil euer Bike etwas längere Kettenstreben hat, heißt das nicht, dass ihr nicht durch Anlieger schießen oder durch enge Kurven heizen könnt. Und wenn euer Hauptrahmen sich nicht bis zum Horizont erstreckt, hindert euch das nicht daran, schnelle Abfahrten runterzuballern. Technik und Fahrstil spielen hier die größere Rolle. Wie wir fahren, wo wir fahren und unser eigener Körperbau, das alles hat Einfluss darauf, welches Bike unseren Bedürfnissen am ehesten entspricht: Habt ihr das Fahrkönnen, um die Leute herauszufordern, die für gewöhnlich auf den Treppchen stehen? Oder heißt Mountainbiken für euch vor allem Spaß haben und eine gute Zeit genießen?

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Wie bei allem im Leben geht es am Ende um die richtige Balance. Superlange und -flache Geometrien sind ideal für alle, die das Glück haben, in der Nähe von anspruchsvollen Trails zu wohnen, und für Racer, die einfach alles mit 100 % fahren und jede Sekunde einer Abfahrt im roten Bereich sind – aber das ist sicher nicht für jeden was. Für alle, die ihre Ausfahrten lieber etwas entspannter angehen und keine EWS-Trails um die Ecke haben, könnte eine ausgeglichenere Geometrie das Geheimnis für noch mehr Spaß auf dem Bike sein. „Länger und flacher“ lauten die Modewörter, aber die Balance ist das, worum es wirklich geht – don’t believe the Hype.


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Text: Fotos: Catherine Smith