Das Hobby zum Beruf machen – Jérémy erzählt im Interview, wie es geht
Wer träumt nicht davon, sein Hobby zum Beruf zu machen? Jérémy hatte weder Bock auf seinen langweiligen Bürojob noch auf den kalten deutschen Winter. Seine Lösung: Er arbeitet als Bike-Guide und Reiseveranstalter auf Madeira. In diesem Interview erfahrt ihr mehr über den Deutsch sprechenden Franzosen, der von Hamburg auf die Atlantikinsel ausgewandert ist.
ENDURO: Hi Jérémy, wie geht’s dir? Stell dich doch bitte unseren Lesern kurz vor.
Jérémy Mir geht’s super, danke! Mein Name ist Jérémy Frotey, ich bin 35 Jahre alt und Franzose. Geboren wurde ich in der Bourgogne, wo die besten Weine der Welt herkommen, aufgewachsen bin ich in Alpes Maritimes, wo die besten Mountainbiker der Welt herkommen.
ENDURO: Ein Franzose, der ziemlich gut Deutsch spricht und auf Madeira lebt – wie genau ist das passiert?
Jérémy Nachdem ich mein Studium als Telekommunikationsingenieur in Frankreich abgeschlossen hatte, zog ich nach Hamburg wegen der Kultur und des Nachtlebens. Ich liebe Hamburg, doch nach 10 Jahren, als ich nach einigen Jahren Pause wieder mit dem Biken angefangen hatte, begannen die dunklen, nassen, kalten Winter, mich zu nerven.
Ich fing an, mich nach Orten umzusehen, wo es im Winter warm ist und hatte das Glück, dass ich meinen Job mitnehmen konnte, denn ich arbeitete als Softwareingenieur von zu Hause aus für eine französische Firma. Ich versuchte es in Barcelona und Lissabon, entdeckte schließlich zufällig Madeira und verliebte mich sofort. Ich lernte begeisterte einheimische Fahrer kennen und mir wurde klar, welches riesige Potenzial die Insel als Ziel für Biker aus aller Welt hat.
ENDURO: Softwareingenieur, Marketingmanager, Bike-Guide, Rennveranstalter und Shuttle-Fahrer – du bist anscheinend ein Multitalent?
Jérémy Ich kann wohl alles und bin nirgends der Beste. Also viele dieser Dinge habe ich so nebenbei gelernt und ich lerne nach wie vor jeden Tag dazu! Vor allem aber habe ich ein tolles Team mit Kollegen, die in einigen dieser Gebiete hervorragend sind: Joselino Sanchez, der Hauptguide und -trailbauer, Ricardo Pinto, Hauptorganisator des Sandokan Enduro, der auch stark in den Trailbau involviert ist und in die MTB-Lobbyarbeit bei der Inselregierung, Dobromir Dobrev, der zwei Jahren unser Gast-Guide für die Wintersaison war … und dann gibt es noch eine große lokale Szene an leidenschaftlichen Mountainbikern.
ENDURO: Du hast deinen Job aufgegeben, um Vollzeit hier auf Madeira zu arbeiten – was hat dich dazu motiviert? Ziemlich sicher nicht das Geld, oder?
Jérémy Naja, mit Software lässt sich definitiv mehr Geld verdienen als mit Mountainbiken.
Doch ich wollte mein eigenes Ding schaffen, etwas aufbauen, das auch für die Zukunft Bestand hat. Und ich wollte auch als Outsider in diese „Industrie“ eine neue Perspektive einbringen. Außerdem ist es natürlich so: Wenn man eine Leidenschaft für Bikes hat, dann fühlt sich einfach alles, was damit zu tun hat, nicht wirklich wie Arbeit an.
ENDURO: Warum Madeira? Warum nicht eine der anderen bekannten Inseln?
Jérémy Das war erst mal ein glücklicher Zufall: Ich war in Lissabon, hatte ein paar Tage frei, die Flüge waren billig und ein Freund von mir wollte die Wellen austesten und ich die Berge.
Dann war es Liebe auf den ersten Blick.
Es ist unglaublich, wie viel Kontrast so eine kleine Insel bieten kann! Alpine Wiesen gehen in Nadelwälder über, dann kommen Eukalyptuswälder und schließlich kakteenüberwucherte rote Klippen, die steil ins Meer abfallen. Oder an der Nordküste die magischen Wälder mit jahrhundertealten Bäumen, dann üppiger Jurassic-Park-Dschungel, Wasserfälle und schließlich schwarze Sandstrände. Es fühlt sich mitunter so an, als ob man an einem einzigen Tag – oder sogar auf einem einzigen Trail – an ganz verschiedenen Orten ist, so abwechslungsreich sind das Gelände, die Vegetation, das Licht … Und dann gibt es noch viele andere Gründe. Das Essen ist fantastisch! Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, Obst … und es ist auch sehr günstig. Ich schätze, das hat mit meiner französischen Herkunft zu tun, aber Gastronomie ist ein wichtiger Teil von dem, was ich als Mountainbike-Urlaub anbiete. Wir lassen unsere Gäste an unserem Insiderwissen teilhaben und bringen sie zu den besten Restaurants, in denen auch die Locals essen und nicht die Touristen.
ENDURO: Es war super, für ein paar Tage hier zu sein. Aber wie lebt es sich auf so einer kleinen Insel? Vermutlich gibt es keine große Partyszene und gute Bars sind sicher selten – wird das nicht langweilig?
Jérémy Die Insel ist zwar klein, aber so voller „Falten“, dass es nach fünf Jahren immer noch eine Menge Täler und Schluchten gibt, die ich noch nicht erkundet habe. Was das kulturelle Leben angeht: Ja, natürlich ist das begrenzt, aber es gibt trotzdem ein paar sehr gute Bars und Kollektive, die großartige Events organisieren, z. B. MadeiraDig, MMIFF etc. Der Rhythmus ist ein anderer, es ist eher ein „Einmal-im-Monat-Ding“ als dass man jeden Tag 10 Optionen zur Auswahl hätte. Aber das ist eben ein anderer Lebensstil, den ich gerne übernehme.
Ich genieße es, in einem charmanten Dorf am Meer zu leben, das von hübschen kleinen Gässchen durchzogen ist, mit dem Geräusch von Weltklasse-Surfwellen immer im Ohr – und natürlich vor allem nah an den Trails. Und in einer halben Stunde kann ich mit dem Auto in Funchal sein, der Hauptstadt mit 110.000 Einwohnern.
ENDURO: Ich war beeindruckt, wie viele Leute am Sandokan Enduro Race teilgenommen haben und einer der Fahrer sagte mir, es gäbe noch viel mehr Rennen auf Madeira. Wie ist die Fahrerszene hier so?
Jérémy Unser Sandokan Enduro war schon etwas Besonderes, denn es war das Rennen, das bisher die meisten Leute von außerhalb der Insel hierher gezogen hat: 60 von 100 Startern.
Die Szene ist großartig! Schon seit 15 Jahren gibt es hier eine ausgeprägte Downhill-Kultur mit über 100 Fahrern und in den letzten Jahren ist auch die Enduro-Community ziemlich gewachsen, auf mittlerweile etwa 50 Fahrer. Es gibt ein paar verdammt schnelle Locals und viele Weekend Warriors – man teilt sich die Trails ebenso wie den obligatorischen Poncha danach (ein Getränk aus einheimischem Rum, frisch gepresstem Orangen- oder Zitronensaft und Honig).
Zu den anderen Races: Die Enduro Madeira Series umfasst vier Rennen und es gibt eine eintägige Regionalmeisterschaft. Aber es gibt auch DH, Urban DH, XC und Rennrad – der Fahrradkalender ist also ziemlich voll.
ENDURO: Auf Madeira geht alles ein bisschen entspannter zu und wirkt weniger strikt durchorganisiert. Wir Deutschen lieben ja rigide Organisation, wie gehst du hier mit dieser lässigeren Lebensweise um?
Jérémy Das ist die südländische Herangehensweise: Die Dinge sind flexibel, Zeit ist relativ … ich musste das lernen und mich anpassen. Wenn wir Gäste haben, für die das geregelter ablaufen muss, dann agiere ich als Puffer und vermittle, um sicherzugehen, dass alles rund läuft. Ich sage z.B. den Einheimischen eine frühere Uhrzeit, damit sie dann ganz sicher rechtzeitig da sind.
ENDURO: Du bist auch Teil des Bikulture-Teams, das u. a. geführte Mountainbike-Touren auf der Insel anbietet. Wie lange arbeitest du daran schon?
Jérémy Ich habe Bikulture vor drei Jahren mitgegründet, aber wir hatten das Projekt davor fast zwei Jahre lang vorbereitet. Das Team wächst im Moment, und für 2016 sind aufregende Projekte geplant.
ENDURO: Das ganze Jahr über Sommer klingt schon cool, aber fehlt dir der Winter gar nicht?
Jérémy NEIN! Ich mache schon, seit ich Teenager war, keinen Wintersport mehr, deshalb vermisse ich den Schnee nicht wirklich. Und ich finde es ziemlich super, an Weihnachten draußen ein Barbecue machen zu können, im Winter Shorts zu tragen, nicht drinnen essen zu müssen, an Neujahr im 20 °C warmen Meer schwimmen gehen zu können … hmm, soll ich noch weiter erzählen?
ENDURO: Ja, erzähl uns doch noch mehr über Madeira – was macht diese Insel so besonders?
Jérémy Wie gesagt, die Vielfalt hier ist einfach fantastisch! Von einem Trail zum nächsten fühlt man sich, als wäre man auf einem anderen Erdteil. Die Landschaft ist atemberaubend. Ich liebe es, dass Berge und Meer so nah beieinander sind. Man kann auf 1.500 m Höhe sein und trotzdem nur ein paar Kilometer von der Küste weg. Und man kann einen fantastischen Ausblick genießen, bei dem man sogar die Erdkrümmung sieht. Die Tatsache, dass es hier nicht so überlaufen ist wie an anderen berühmten Reisezielen und die freundlichen Locals tragen auch dazu bei, dass man hier eine großartige Zeit auf dem Bike hat.
ENDURO: Was ist dein Lieblingstrail auf Madeira?
Jérémy Der Sandokan-Trail, nach dem auch das Event benannt ist! Er ist kurz, aber bietet einen super Überblick über die Möglichkeiten, die es hier im Südwesten von Madeira gibt, mit Tunneln aus Vegetation, schnellen, grasigen Abschnitten und Singletrails auf Viehpfaden und Steinfeldern. Dieser Trail zaubert einem definitiv ein Lächeln ins Gesicht!
ENDURO: Kannst du unseren Lesern ein paar Tipps geben, bevor sie zu euch nach Madeira kommen?
Jérémy Sorgt dafür, dass eure Bikes auch eine brutalere Behandlung abkönnen! Vergesst Gewichtsersparnis, geht in den DH-Modus mit verstärkten Reifen usw. Und wie bei jedem Bikeabenteuer: Bringt Ersatzteile mit, falls an eurem Rad irgendwas „Exotisches“ dran ist. Packt sowohl Badesachen als auch eine Regenjacke ein. Wenn ihr Probleme habt, günstige Flüge zu finden, meldet euch, wir können euch vielleicht helfen. Und bringt uns eine Flasche von eurem Lieblingsgetränk bei euch zu Hause mit, wir tauschen sie gegen Poncha!
ENDURO:Danke für das Interview!
Jérémy Danke auch! Wir sehen uns bald auf Madeira!
Übrigens: Unser Reisebericht über Madeira mit etlichen nützlichen Tipps
Text: Christoph Bayer Bilder: Christoph Bayer, Sascha Bamberg, Motion Studios, Bruno Santos
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