Wir alle kennen die Witze: Business at the front, party at the back. Mullet-Bikes mit einem Mix aus 29”- und 27,5”-Laufrädern sind ein heißes Thema, ob beim DH-Weltcup oder auch bei Diskussionen mit euren Kumpels. Doch bevor ihr mit einem Laufrad-Tausch euer Bike versaut und euer Konto plündert: Wir haben uns das Konzept der gemischten Laufradgrößen genauer angesehen, um herauszufinden, ob man tatsächlich das Beste aus beiden Welten erhält.
Was ist ein Mullet-Bike?
Ein Mullet (englisch für Vokuhila) vereint zwei Laufradgrößen – üblicherweise ein 27,5”-Laufrad am Heck und ein größeres 29”-Laufrad an der Front. Einige Hersteller wie MDE, LAST, Liteville und Foes (und viele E-MTB-Hersteller) verkaufen standardmäßig Bikes mit gemischten Laufradgrößen, während viele andere Mullet-Bikes durch neugierige Fahrer erschaffen wurden, die ein 29”-Laufrad an der Front ihres 27,5”-Bikes verbaut haben – oder eben ein 27,5”-Laufrad am Heck ihres 29ers. Auf dem Papier klingt das Ganze fantastisch, das Beste von allem – mit einem 29”-Vorderrad für Grip und gutes Überrollverhalten und einem agilen, wendigen Hinterrad für mehr Agilität und Spaß in Kurven. Sind 29” an der Front und 27,5” am Heck die perfekte Kombi?
Mullet-Bikes sind nichts Neues – Ein kurzer Blick ins Geschichtsbuch
Erst vor Kurzem wurden Mullet-Bikes ins Rampenlicht katapultiert, da sie vermehrt bei EWS- und Downhill-Rennen anzutreffen waren – sicher bedingt durch die nunmehr gelockerten Regularien der UCI hinsichtlich gemischter Laufradgrößen bei Wettkämpfen. Der Anblick von zunehmend mehr Downhill-und EWS-Profi-Rennfahrern mit Mullet-Bikes an den Startlinien entfachte natürlich ein Feuer bei vielen leidenschaftlichen Bastlern. Hat ein Mullet-Bike Vorteile? Oder ist es einfach nur eine panische Reaktion, bei der ein schneller rollendes 29er-Laufrad in einen veralteten Rahmen gequetscht wird? Was auch immer der Grund sein mag – Mullet-Bikes gab es schon lange vor dem Tiger King. Das Specialized BigHit aus 2004 mixte – bereit für das allergröbste Gelände – ein 24”-Hinterrad mit einem 26”-Vorderrad. Und auch Trek brachte 2009 ein 69er heraus, mit einem 26”-Hinterrad und einem zu dieser Zeit überdimensionierten 29”-Vorderrad. Das Mullet-Konzept existiert also bereits seit mehr als 15 Jahren, doch warum hat es sich nicht früher etabliert? Lasst uns sehen, wie die unterschiedlichen Laufradgrößen zusammenpassen.
Warum rollt ein größeres 29”-Laufrad leichter und bietet mehr Grip und Laufruhe?
Warum rollt ein 29”-Laufrad besser? Lassen wir das Fahrwerk für einen Moment außer Acht und konzentrieren uns allein auf die Laufradgröße: Wenn das Laufrad Kontakt mit einem Hindernis hat, formt es eine virtuelle Rampe. Stellt euch das Ganze als Dreieck vor, dessen drei Seiten die Verbindung zwischen der Spitze des Hindernisses, dem Boden und der Aufstandsfläche des Laufrads bilden. Diesen Winkel zwischen der Aufstandsfläche und der Spitze des Hindernisses muss sich das Laufrad nach oben und über das Hindernis hinweg bewegen. Je steiler dieser Winkel, desto schwieriger ist es für das Laufrad, das Hindernis zu überrollen. Ein größeres Laufrad verschiebt die Aufstandsfläche am Boden weg vom Hindernis, reduziert den Auffahrwinkel und macht es somit für das Laufrad leichter, über das Hindernis hinwegzurollen. Auch wenn ein 29”-Laufrad diesen Abstand – verglichen mit einem 27,5”-Laufrad – lediglich um ca. 5 % erhöht, führt das über Tausende von Schlägen rasch zu einem geringeren Rollwiderstand auf dem Trail und weniger Erschöpfung bei euch. Bei einem 29”-Laufrad sorgt die höhere Radachse außerdem dafür, dass der Fahrer und der Schwerpunkt des Bikes im Verhältnis zur Radachse niedriger positioniert sind als bei einem 27,5”-Bike, was das Bike zusätzlich stabilisiert. Zuletzt hat das größere 29”-Laufrad eine größere Kontaktfläche und bietet so mehr Grip von den Reifen, bei gleichem Luftdruck. Die simple Physik verrät uns also, dass ein 29”-Laufrad besser über Unebenheiten rollt, laufruhiger ist und mehr Grip bietet.
Warum ist ein 27,5”-Laufrad agiler?
Auch wenn es in puncto Grip, Überrollverhalten und Laufruhe den Kürzeren zieht – ein 27,5”-Laufrad hat dennoch viele Vorteile. Sein kleinerer Durchmesser und die reduzierte rotierende Masse haben zur Folge, dass bei gleicher Krafteinwirkung das kleinere 27,5”-Laufrad schneller beschleunigt. Somit generiert man mit ihm beim Pumpen auf dem Trail und beim Beschleunigen aus Anliegern heraus mehr Speed. Grip ist außerdem nicht alles – die kleinere Aufstandsfläche eines 27,5”-Laufrads bedeutet, dass der Reifen schneller die Bodenhaftung verliert und leichter driftet. Wenn ihr also ein Fan von Cutties und aggressivem Kurvenfahrverhalten seid, dann könnt ihr es mit dem kleineren Laufrad leichter krachen lassen. Die kleinere tatsächliche Größe des Hinterrads sorgt außerdem dafür, dass es bei Drops und auf super steilen Trails eher weniger zum Kontakt zwischen eurem Hintern und dem Hinterrad kommt. Zusammengefasst verrät uns die simple Physik also, dass ein 27,5”-Laufrad schneller beschleunigt, in Kurven verspielter ist und leichter driftet. Außerdem verleiht es euch mehr Raum für akrobatische Verrenkungen.
Sollte ich mein MTB in ein Mullet-Bike verwandeln?
Soweit zur Theorie, doch bevor ihr nun in die Garage rennt und versucht, eine andere Laufradgröße in euren Rahmen zu quetschen, müsst ihr zunächst ein paar Dinge betrachten. Die Laufradgröße eures Bikes zu wechseln, ist eine große Veränderung und kann teuer werden. Im Mindestfall benötigt ihr ein neues Laufrad inklusive Reifen, aber höchstwahrscheinlich auch eine neue Federgabel und möglicherweise einen neuen Lenker sowie Vorbau. Eine Veränderung der Laufradgröße eures Bikes wird zudem große Auswirkungen auf die Geometrie des Bikes haben – die korrigiert werden muss, wenn ihr kein völlig unausgewogenes Fahrgefühl haben wollt. Doch wenn ihr es richtig macht, dann gibt es viele Gründe dafür, warum es eine verlockende Idee ist, euer MTB in ein Mullet-Bike zu verwandeln. In den folgenden Szenarien kann es euch potenziell helfen:
Mehr Kontrolle in felsigem Terrain: Ein größeres 29”-Laufrad rollt leichter über große, kantige Hindernisse, wie beispielsweise durch grobe Steinfelder. Das Laufrad bleibt weniger hängen und die Lenkung ist kontrollierter.
Mehr Platz über dem Hinterrad: Wenn ihr mit einem 29er super steile Trails herunterfahrt und euer Hintern bei Drops häufig das Hinterrad berührt, dann dürfte ein kleineres Laufrad für mehr Bewegungsspielraum am Heck eine perfekte Lösung sein.
Lebendigeres Kurvenverhalten: Wenn ihr euer 29er in Kurven ein wenig träge findet oder gern mal eine Inside-Line nehmt, dann kann sich das Kurvenverhalten durch den Wechsel auf ein 27,5”-Hinterrad verbessern. Ein kleineres Hinterrad lässt sich leicht hin und her flicken und ihr habt damit mehr Platz auf dem Rad.
Flachere Geometrie: Wenn ihr es gern laufen lasst, dann dürfte euch die verbesserte Laufruhe eines größeren 29”-Vorderrads gefallen. Im Mullet-Aufbau wird bei eurem Bike der Lenkwinkel abgeflacht und der Rollwiderstand reduziert, sodass ihr schneller unterwegs seid.
Weil es cool ist: Vielleicht habt ihr noch ein Ersatz-Laufrad von einem anderen Bike herumliegen? Vielleicht seid ihr aber auch einfach nur neugierig oder wollt schlicht etwas Neues ausprobieren. Euer aktuelles Bike in einen Mullet-Aufbau zu verwandeln, ist weitaus günstiger, als ein neues Bike zu kaufen. Das Ganze kann ein spannendes Experiment sein, doch nicht immer ist ein positives Resultat garantiert.
Alles was ihr wissen müsst, bevor ihr euer Bike umrüstet
Wenn ihr der Meinung seid, dass ein Mullet-Umbau eures Bikes eine Spitzenidee ist, dann haben wir für euch die folgende Checkliste vorbereitet. Sie sagt euch, worauf ihr achten müsst und wie ihr einige der Probleme korrigieren könnt, die möglicherweise auftreten werden.
Die Geometrie eures Bikes wird sich verändern
An irgendeinem Punkt in der Entwicklung eures Bikes hat sich ein Konstrukteur – hoffentlich – den Kopf über jede einzelne Kennzahl der Geometrie zerbrochen und im CAD-Design schrittweise die einzelnen Winkel feinjustiert, bis wirklich alles im perfekten Einklang war. Die Entwickler ahnten dabei natürlich noch nicht, dass ihr eines Tages Pläne haben könntet, alles ändern zu wollen, indem ihr ein größeres oder kleineres Laufrad zur Gleichung hinzufügt. Ein solcher Laufradgrößen-Wechsel wird massive Auswirkungen auf die Geometrie eures Bikes haben, Lenk- und Sitzwinkel abflachen, den Reach verkürzen und das Tretlager anheben bzw. absenken.
Die Höhe eures Tretlagers verändert sich erheblich
Wenn wir kurz unsere Oberstufen-Trigonometrie-Skills herauskramen, dann können wir kurzerhand ausrechnen, dass der Wechsel auf ein 29”-Vorderrad anstelle eines 27,5”-Vorderrads in einer ungefähren Anhebung der Vorderachse um 20 mm resultiert (bei gleichem Reifen). Ebenso wird das Tretlager um 7,1 mm angehoben (bei einem angenommenen Radstand von 1.200 mm und 440 mm langen Kettenstreben). Umgekehrt senkt die Montage eines 27,5”-Laufrads am Heck eines 29”-Bikes die Hinterachse um 20 mm ab. Das Tretlager wird sogar um erhebliche 12,7 mm abgesenkt, da es sich näher an der Hinterachse befindet – bei einem angenommenen Radstand von 1.200 mm und 440 mm langen Kettenstreben. Wenn ihr also bereits ein niedriges Tretlager habt, dann nehmt euch vor Pedalkontakt in Acht.
Korrektur der Tretlagerhöhe mittels Offset-Buchsen
Offset-Buchsen sind modifizierte Dämpfer-Buchsen, die dafür genutzt werden können, die Geometrie eures Bikes anzupassen, indem das Tretlager abgesenkt und der Lenkwinkel abgeflacht werden (oder umgekehrt). Offset-Buchsen bieten die gleiche Funktion wie ein Flip-Chip in eurem Rahmen und verringern die effektive Einbaulänge eures Dämpfers, um so die Geometrie eures Bikes niedriger und flacher zu machen. Offset-Buchsen reduzieren jedoch nicht den Federweg eures Bikes. Generell kann der Einbau zweier Offset-Buchsen die Tretlagerhöhe des Bikes um bis zu 10 mm reduzieren bzw. erhöhen. Erwähnenswert ist jedoch, dass man die Offset-Buchsen nicht an einem Dämpfer mit Trunnion-Mount verwenden kann und die Buchsen neben dem Lenk- auch den Sitzwinkel flacher bzw. steiler machen.
Große Veränderungen des Federwegs sind keine wirkliche Lösung
Reduziert ihr den Federweg eurer Gabel um 10 mm, so führt dies zu einer Absenkung eures Tretlagers um ca. 3,3 mm. Daher müsstet ihr den Federweg eurer Gabel um über 20 mm verringern, um die abweichende Tretlagerhöhe mit einem 29”-Vorderrad korrekt auszugleichen. Solch eine große Veränderung des Federwegs ist nicht immer umsetzbar (geschweige denn wünschenswert). Daher müsst ihr wohl damit klarkommen, dass das Tretlager mit einem größeren Vorderrad höher bzw. mit einem kleineren Hinterrad niedriger ausfällt.
Der Reach eures Bikes wird kürzer
Wenn ihr die Front eures Bikes erhöht oder dessen Heck absenkt, rotiert ihr es jeweils um die gegenüberliegende Achse. Dadurch reduziert sich der Reach – also der Abstand zwischen Tretlager und Lenker – und euer Bike wird sich kompakter anfühlen. Wenn ihr den Reach beibehalten wollt, müsst ihr einen längeren Vorbau montieren und, wenn möglich, den Rise eures Lenkers verändern – oder Spacer unter eurem Vorbau entfernen.
Habt ihr Spacer unter eurem Vorbau?
Um den effektiven Reach eures Bikes zu verändern, könnt ihr Spacer unter eurem Vorbau hinzufügen oder entfernen. Das sorgt für eine Veränderung der Position des Vorbaus auf dem Steuerrohr. Da das Steuerrohr einen bestimmten Winkel aufweist, haben Veränderungen der Höhe des Vorbaus auch eine Auswirkung auf horizontaler Ebene. Als Beispiel: Wenn euer Bike einen Lenkwinkel von 65° besitzt, dann zeigt uns eine kurze Berechnung, dass für jeden 10 mm-Spacer, den man hinzufügt oder entfernt, der Vorbau um 9,06 mm in vertikaler Richtung wandert, aber eben auch um 4,22 mm auf horizontaler Ebene.
Montiert einen längeren Vorbau und einen Lenker mit weniger Rise
Mit dem Einbau eines größeren Vorderrads erhöht ihr euren Stack, verkürzt den Reach und verändert somit das Verhältnis zwischen euren Füßen und Händen. Um das auszugleichen, solltet ihr womöglich einen etwas längeren Vorbau nutzen, um mehr Gewicht aufs Vorderrad zu bekommen. Dadurch verschiebt sich euer Gewicht nach vorn und gleicht den erhöhten Stack und verringerten Reach aus. Wenn ihr einen Riser-Lenker besitzt, solltet ihr eventuell eine Option mit weniger Rise montieren. Denn anders als bei einer Veränderung der Spacer hat ein anderer Rise des Lenkers im Bezug zum Steuerrohr keinen Einfluss auf die horizontale Position eurer Griffe.
Ihr müsst euren Sattel nach vorn schieben
Da sich der Stack eures Bikes um 30–40 mm erhöht, fällt auch der Sitzwinkel um ca. 1–1.5° flacher aus. Um dem entgegenzuwirken, könnt ihr euren Sattel nach vorn schieben. Schiebt man den Sattel komplett nach vorn bzw. hinten, so kann das eine effektive Veränderung des Sitzwinkels von bis zu ± 2° zur Folge haben. Im Gegenzug verkürzt bzw. verlängert ihr dadurch natürlich die effektive Oberrohrlänge, d. h. wie weit euer Lenker im Sitzen entfernt ist.
Das Ganze ist nicht billig
Abhängig von euren Plänen benötigt ihr ein neues Laufrad inklusive Reifen, entweder in 29” oder 27,5”. Vermutlich braucht ihr außerdem eine neue Federgabel, wenn aktuell eine 27,5”-Federgabel verbaut ist und ihr plant, ein 29”-Laufrad an der Front zu nutzen. Es gibt zwar vereinzelte Erfolgsgeschichten darüber, ein 29”-Laufrad in einer 27,5”-Federgabel unterzubringen, aber wir würden das keinesfalls empfehlen, da die Reifenfreiheit dadurch extrem klein ausfällt und die Reifenwahl eingeschränkt ist.
Möglicherweise sollte eure vordere Bremsscheibe ein Upgrade bekommen
Wenn ihr den Schritt zu einem größeren 29”-Vorderrad wagt, dann ist das auch ein guter Grund, eurer Vorderradbremse ein Upgrade zu verpassen. Statt einer 180-mm-Scheibe eine 200er, oder anstelle einer 200er gar eine 220-mm-Bremsscheibe zu montieren, kann das Bremsmoment um 30 % erhöhen, ohne jedoch einen erheblichen Gewichtsnachteil mit sich zu bringen.
Muss ich mein Fahrwerk anpassen?
Wenn ihr eine tiefgreifende Veränderung an der Geometrie eures Bikes vornehmt, wie etwa ein größeres Vorderrad oder ein kleineres Hinterrad zu montieren, dann beeinflusst ihr dadurch natürlich auch eure Position auf dem Bike und dessen Fahrverhalten. Wenn ihr diese Veränderungen nicht ausgleicht, dann verschiebt der Einbau eines größeren Vorderrads bzw. kleineren Hinterrads euer Gewicht nach hinten und ihr braucht wahrscheinlich etwas mehr Luftdruck im Dämpfer (oder eine härtere Feder) bzw. müsst die Low-Speed-Druckstufe erhöhen.
Verfällt dadurch die Garantie meines Bikes?
Eine schwierige Frage, aber es ist wahrscheinlich, dass der Einbau einer neuen Laufradgröße an der Front die Garantie eures Bikes verfallen lässt. Wenn euer Bike noch innerhalb seiner Garantiezeit ist, kann es daher nicht schaden, das Kleingedruckte zu lesen.
Also, ist ein Mullet-Bike nun besser? Verwandelt ein Umbau euer Bike in eine super spaßige Baller-Maschine? Wir haben unser eigenes Mullet-Bike aufgebaut!
Ist ein Mullet-Bike besser?
Soweit zur Theorie, doch wie funktioniert das Ganze in der Praxis? Hier bei ENDURO packen wir gern an und konnten daher nicht widerstehen, einen Mullet-Umbau bei einem unserer Bikes vorzunehmen, um die Effekte am eigenen Leib zu spüren.
Doch welches Bike ist für dieses Experiment geeignet? Idealerweise wünschten wir uns ein 27,5”-Bike, das von einem größeren 29”-Vorderrad profitieren könnte. Dafür fanden wir schnell das perfekte Bike, da wir es erst kürzlich bei einem Vergleichstest gefahren sind: das 27,5”er FOCUS SAM. Wir lieben seinen spaßigen und agilen Charakter und zogen damals das folgende Fazit: „Das FOCUS SAM ist wie gemacht für alle, die auf der Suche nach einem agilen Bike für maximalen Fahrspaß sind. Es ist keine Highspeed-Bügel-Maschine für die Sekundenjagd, aber genau das Richtige, um jeden Trail in einen großen Spielplatz zu verwandeln.“ Was würde also beim Einbau eines 29”-Vorderrads passieren? Würde das dem Bike mehr Laufruhe bei Highspeed verleihen, ohne dabei jedoch seinen verspielten Charakter zu beeinträchtigen? Um das herauszufinden, haben wir unser eigenes #officemullet erschaffen!
Ein neuer Haarschnitt für das FOCUS SAM – Das haben wir verändert
Das FOCUS SAM 9.9 ist ein Bike mit sattem Federweg. Standardmäßig ist eine FOX
36 Rhythm 27,5” 170-mm-Federgabel mit einer Einbauhöhe von 559,1 mm verbaut. Wir wollten den langhubigen Charakter beibehalten, daher ersetzten wir die Gabel durch eine FOX 36 Rhythm 29” mit 160 mm Federweg und einer Einbauhöhe von 567,1 mm. In Kombination mit der um 19,1 mm erhöhten Vorderachse, bedingt durch den Wechsel zum größeren Vorderrad, und mit einem um schätzungsweise 1° flacheren 64°-Lenkwinkel (ohne bei den Nachkommastellen allzu streberhaft zu sein), sagen uns ein paar schnelle Berechnungen: Der Stack steigt von 623 mm auf ca. 646 mm an, sodass der Lenker ungefähr 23 mm höher ist. Bei unserem Test-Bike waren 20 mm an Spacern unter dem Vorbau montiert. Diese entfernten wir, senkten den Lenker um 18 mm ab und verschoben ihn im gleichen Atemzug um 9 mm nach vorn. Um den verkürzten Reach komplett auszugleichen, ersetzten wir auch den ursprünglich installierten 35-mm-Vorbau durch eine Option mit 50 mm Länge. Obwohl der Stack und Reach bei unserem Mullet-Aufbau nach diesen Veränderungen ein wenig höher bzw. kürzer ausfielen, war die Sitzposition nahezu identisch im Vergleich zum originalen Setup.
Als nächstes ging es an die Tretlagerhöhe. Mit montierten MAXXIS Minion DHRII 2,4” WT-Reifen stellten wir eine Tretlagerhöhe von 338 mm beim 27,5”-Standard-Bike fest. Der Wechsel zu einem 29”-Vorderrad hob das Tretlager um ca. 8 mm auf nunmehr 346 mm an. Um es wieder abzusenken, installierten wir zwei Offset-Buchsen am FOX DPX2-Dämpfer und brachten das Tretlager damit zurück auf eine Höhe von 340 mm – lediglich 2 mm höher als bei der Standard-Variante. Die Offset-Buchsen sorgten außerdem dafür, dass das Mullet-Bike noch flacher ausfiel: Gemessen mit unserem ausreichend genauen Messgerät stellten wir einen Lenkwinkel von 63,4° (verglichen mit den standardmäßigen 64,8°) und einen Sitzwinkel von 73,8° (standardmäßig 75°) fest. Zuletzt schoben wir den Sattel 2 cm weiter nach vorn, um das flachere Sitzrohr auszugleichen und rotierten die Bedienelemente am Lenker ein wenig, um ihre ursprüngliche Einstellung wiederherzustellen. Da war es also, unser FOCUS SAM #officemullet – und es sah wild aus! Aber wie würde es sich fahren?
Völlig anders … Obwohl wir die Position des Lenkers korrigiert hatten, wirkte die Sitzposition in der Mullet-Konfiguration sofort anders. Das Bike fühlte sich mit nach vorne geschobenem Sattel kompakter und spürbar flacher an – wie ein kompakter DH-Bolide. Rollt das Vorderrad erst einmal mit einer gewissen Geschwindigkeit, wird die erhöhte gyroskopische Stabilität des größeren Rads augenblicklich deutlich. In Kombination mit dem flacheren Lenkwinkel fühlte sich das Vorderrad bei gerader Fahrt laufruhiger an. Es hält seine Spur besser und reagiert bei Schlägen deutlich weniger unruhig. Selbst mit 10 mm weniger Federweg an der Front fühlte sich das Mullet-FOCUS SAM deutlich potenter an und war weitaus mehr in der Lage, aggressive Linien durch Steinfelder sowie über Wurzelteppiche hinweg zu halten und weniger an kantigen Hindernissen hängen zu bleiben.
Wir konnten deutlich härter durch Steinfelder bügeln und mehr direkte Linien nehmen. Mit der leicht nach hinten versetzten Position gelingen Manuals und Wheelies völlig mühelos!
Die erhöhte Laufruhe des 29”-Vorderrads verstärkt das Empfinden noch, wie viel agiler das kleinere 27,5”-Hinterrad sich im Vergleich anfühlt. Unser FOCUS SAM Mullet-Bike liebt es, mit dem Schwanz zu wedeln – Dank seiner kleineren Aufstandsfläche und den reduzierten gyroskopischen Kräften am Heck. Cutties, Drifts und Inside-Lines sind ein müheloses Vergnügen und das kleine Hinterrad verleitet einen geradezu, damit herumzuspielen. Das große Vorderrad hingegen rettet einem den Hals, wenn man es mal zu sehr krachen lässt. Das Bike ist mit seinem höheren Stack vor allem im steileren Terrain sehr gut, denn dort lässt einen der erhöhte Freiraum am Heck zwischen Hintern und Hinterrad das Bike vergnügt herumwirbeln. Das Rad legt vor allem in 90°-Kurven eine Wendigkeit an den Tag, bei der reinrassige 29er nicht mithalten können. Auf steilen Trails und wenn es allein um den Spaßfaktor geht, ist unser #officemullet ein voller Erfolg und absolut spitze.
Aber: Als es wieder bergauf ging, empfanden wir nicht alle Veränderungen als positiv. Die Konstrukteure zerbrechen sich aus gutem Grund den Kopf hinsichtlich der Winkel des Bikes und streben ein ausgewogenes Fahrgefühl an. Der Einbau eines größeren 29”-Vorderrads in unseren 27,5”-Rahmen führte zu einer Unausgewogenheit, die im flacheren, flowigen Terrain am meisten spürbar ist. Man hat beim Durchfahren von Kurven dabei eher das Gefühl, hinter dem Vorderrad zu stehen, statt zentral im Bike. Das ist zwar nicht zwangsläufig ein schlechtes Gefühl, aber es war eben auch völlig klar, dass wir große Änderungen an einem vormals äußerst ausgewogenen Bike vorgenommen hatten. Mit dem Mullet fällt das Klettern zudem schwerer, da die weiter nach hinten verschobene Sitzposition das Gewicht auf dem Vorderrad reduziert und somit steile und technische Anstiege zu einer nervigen Angelegenheit macht. Wir könnten zwar einen noch längeren Vorbau verwenden, oder die Offset-Buchsen wieder entfernen (was wir auch versucht haben), aber all das wirkt sich negativ auf das Kurvenverhalten aus. Wir fanden uns irgendwann an dem Punkt wieder, wo jede weitere Veränderung mit einem Nachteil an anderer Stelle einhergeht. Bergab und für verspieltes Biken lieben wir unseren Mullet-Aufbau, der uns in jeder Kurve Freudentränen in die Augen treibt. Doch insgesamt mussten wir mit dem Mullet-Bike zu große Kompromisse eingehen.
Wir haben es wirklich genossen, unserem FOCUS SAM einen neuen Haarschnitt zu verpassen!
Die Vorteile des FOCUS SAM-Mullet-Bikes zusammengefasst
- verbesserte Laufruhe des Vorderrads, speziell bei Wurzelteppichen und Steinfeldern
- super für Fahrer, die in Kurven gern driften und Inside-Lines nehmen
- bergab spitzenmäßige Performance auf steilen Trails
Die Nachteile
- das Bike fühlt sich in gemäßigterem Terrain unausgewogener an
- die Klettereffizienz leidet und das Vorderrad steigt leichter an
- die Sitzposition ist kompakter
Lohnt sich der Tausch? Sollte man sein MTB in ein Mullet-Bike verwandeln?
Bei solch einer Vielzahl an Variablen ist diese Frage unmöglich zu beantworten. Auch wenn nicht alle Veränderungen, die uns auffielen, positiver Natur waren, haben wir uns doch in das spaßige Fahrgefühl unseres Mullet-FOCUS SAM verliebt. Auch die zusätzliche Laufruhe an der Front und die ungezügelten Fähigkeiten des verspielten Bikes im steilen Terrain gefielen uns. Doch waren diese Veränderungen die erheblichen Kosten einer neuen 29”-Federgabel, eines neuen Vorderrads, neuer Reifen, eines neuen Vorbaus und eines Satzes Offset-Lagerschalen wert? Wenn wir die Kohle selbst ausgeben müssten, dann würden wir sagen: nein. Andererseits dürfte für einige die Frage auch mit „ja“ beantwortet werden: Die Vorteile eines Mullet-Aufbaus des eigenen Bikes sind den Aufwand wert, schließlich fuhr sich auch unser Bike zweifellos unglaublich spaßig. Doch alles in allem vermissten wir das ausgewogene Fahrgefühl des Bikes, das die Konstrukteure bei dessen Entwicklung im Sinn hatten.
In der Theorie machen Mullet-Bikes eine Menge Sinn, doch ihr solltet Vorsicht walten lassen, bevor ihr eine Laufradgröße eures Bikes ändert, da das Resultat unvorhersehbar ausfallen kann. Mullet-Bikes haben jedoch ihre Daseinsberechtigung: Nachdem für viele der Fahrspaß wieder wichtiger geworden ist als der letzte Sekundenbruchteil bei der Jagd des nächsten KOMS, sind wir uns sicher, dass viele Hersteller in Zukunft serienmäßige Mullet-Bikes auf den Markt bringen werden. Diese Bikes sind dann mit einer angepassten Geometrie auch in der Lage, auf einer noch größeren Anzahl von Trails maximalen Fahrspaß zu liefern und sind vermutlich deutlich vielseitiger. Wir freuen uns drauf!
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Text: Fotos: Finlay Anderson, Trev Worsey