Wenn man Testberichte für Stahlräder liest, stolpert man garantiert über Wörter wie lebendig, Seele, Herz, Persönlichkeit. Geht es da noch um Bikes oder schon um mystische Lebewesen? Und was bleibt übrig, wenn man die Nostalgie mal links liegen lässt – ist Stahl dann wirklich noch ein relevantes Rahmenmaterial?

Zweifellos ist Stahl der Ursprung der Rahmenmaterialien bei Mountainbikes, und trotz dieser fast vergessenen Anfänge haben Stahlfahrräder einen Kultstatus erreicht. So wie Casio-Uhren aus den 1980er-Jahren heute zum Zwanzigfachen ihres ursprünglichen Werts gehandelt werden, sind Bikes mit Stahlrahmen bei der aktuellen Craft-Beer-Generation ein heißes Eisen. Während es für ein maßgefertigtes N+1* Hardtail aus Stahl noch halbwegs verständlich ist, die Kaufentscheidung mit Nostalgie zu begründen, wäre es bei einem Fully im Wert von 5.000 € dann doch total irrational. Bei diesem Preispunkt muss Stahl auch mit Performance überzeugen, um gegen die gewaltige Aluminium- und Carbonkonkurrenz bestehen zu können. Nachdem wir die zu oft erzählten Stahl-Märchen aus dem Fenster geworfen haben, wollen wir einen Blick auf die aktuellen Stahl-Bikes werfen.

*N ist die Zahl der Bikes, die ihr schon habt; N+1 ist die Zahl der Bikes, die ihr haben solltet.

Können Trail- und Enduro-Bikes aus Stahl wirklich gegen die mächtige Konkurrenz der Supermarken wie Canyon, Santa Cruz, Specialized, Trek, Yeti und YT ankommen?

Schlanke Rohre für schlanke Oberarmen – Die Stahl-Bikes im Test

Es scheint, als hätte Mutter Natur einen grausamen Sinn für Humor. Während Großbritannien durch die globale Pandemie in den Lockdown getrieben wurde, lieferte das normalerweise raue schottische Klima acht Wochen ununterbrochen Sonnenschein ab. Staubige Trails blieben leer und wurden trockener, als sie je waren. Und dann kamen wir! Die Beschränkungen wurden gelockert und wir konnten mit unseren Spaghettiarmen zurück auf die Trails eilen! Ganz klar Zeit für „Sun’s out, skinny guns out“. Zufällig hatten wir, passend zu unseren dünnen Oberarmen, eine Reihe von Bikes mit dünnen Stahlrohren am Start, die wir nun auf Herz und Nieren testen konnten.

Bike Preis Gewicht Federweg v/h Radgröße
Cotic RocketMAX Gen3
(Zum Test)
5.575 € 15,40 kg 160/160 mm 29″
Pipedream The Full Moxie
(Zum Test)
4.070 € 16,10 kg 150/146 mm 29″
Starling Twist
(Zum Test)
5.226 € 15,90 kg 160/160 mm 29/27,5″
Wo ist der Schlamm, wo der Regen? Schottland hat vergessen, für welches Wetter es bekannt ist, und liefert Traum-Verhältnisse.

Was ist Stahl eigentlich?

Stahl ist einer der wichtigsten Konstruktionswerkstoffe und wird in fast allen Branchen eingesetzt. Es gibt über 3.500 verschiedene Stahlsorten, aber alle sind letztlich eine Legierung aus Eisen und Kohlenstoff, angereichert mit einer Reihe verschiedener Elemente. Die am häufigsten für Fahrradrahmen verwendete Stahllegierung ist 4130 Chromoly, dem geringe Mengen Chrom und Molybdän zugesetzt werden, was zu einem besseren Verhältnis von Festigkeit zu Gewicht führt. Stahl ist vollständig wiederverwertbar, ohne dass sich die Eigenschaften des recycelten Materials verschlechtern. Außerdem benötigt er zur Herstellung relativ geringe Energiemengen – fast dreimal weniger als Aluminium – und besitzt bei entsprechender Pflege eine hohe Lebensdauer.

Warum haben Stahlräder so schlanke Rohre?

Warum sind Stahlrahmen trotz ihres komfortablen Fahrverhaltens, insbesondere bei Hardtails, so viel dünner als Aluminiumrahmen? Bei gleichen Abmessungen ist Stahl etwa dreimal dichter als Aluminium, aber auch dreimal steifer. Steifigkeit und Festigkeit sind jedoch sehr unterschiedliche Parameter. Die Steifigkeit eines Materials wird durch den sogenannten Elastizitätsmodul beschrieben, der die Beziehung zwischen Spannung (die auf das Material ausgeübte Kraft) und Dehnung (die Verformung des Materials) definiert.
Die Festigkeit eines Materials wird durch seine Streckgrenze beschrieben. Das ist der Punkt, an dem das Material über seine Elastizitätsgrenze hinausgeht und sich dauerhaft verformt, wenn sich ein Stahlrahmen also z. B. verbiegt oder reißt. Wenn es um die Herstellung von Fahrradrahmen geht, sollte der Rahmen so konstruiert sein, dass die auftretenden Normalkräfte weit unter der Streckgrenze des verwendeten Materials liegen – damit also unter normalen Bedingungen nichts passieren kann, das den Rahmen verbiegt. Deshalb spielt die Festigkeit für das Fahrverhalten auch eine untergeordnete Rolle, denn das wird eher durch die Kombination aus Rohrdimension und Materialsteifigkeit beeinflusst.

Warum sind die Rohre von Stahlrahmen jetzt aber dünner? Die Antwort hat mit den Unterschieden in der Steifigkeit und der Dichte zwischen Stahl und Aluminium zu tun.
Bei gleicher Wandstärke ist ein Rohr mit größerem Durchmesser steifer als ein Rohr mit kleinerem Durchmesser – verdoppelt man den Durchmesser eines Rohres, erhöht das die Rohrsteifigkeit in etwa um das Vierfache. Will man nun aber den Durchmesser des Rohres vergrößern, gleichzeitig jedoch nicht mehr Material verbrauchen – um das Bike nicht schwerer zu machen –, dann muss man die Wandstärke des Rahmenrohrs reduzieren. Genau das ist gerade bei Stahl ein Balanceakt: Da Stahl ein dichtes Metall ist, müssen Rahmenkonstrukteure vorsichtig sein, schließlich wird der Rahmen bei zu viel Material schnell zu schwer. Allerdings können die Rohre auch nicht endlos verdünnt werden, um Gewicht zu sparen. Denn wenn der Durchmesser der Rohre vergrößert wird, gibt es einen Punkt, an dem die Rohrwände – bei sinnvollem Gewicht – zu dünn werden, um noch genügend Festigkeit und Schutz gegen Beschädigungen zu bieten. Diese Probleme hat Aluminium nicht so stark. Im Gegensatz zu Stahl hat es eine geringere Dichte und kann daher zu Rahmenrohren mit viel größerem Durchmesser und dickeren Wandstärken geformt werden.

Wenn Stahlrahmen also weniger steif sind, sind sie dann weniger haltbar? Nein, ganz im Gegenteil! Vergleicht man es mit Aluminium, hat Stahl sogar eine höhere Lebensdauer! Wiederholte Belastungen vom Trail hält ein Stahlrahmen besser aus als einer aus Aluminium. Rahmen, die aus Alu gefertigt sind, müssen über dickere Rohre und größere Rohrdurchmesser verfügen, um Spitzenbelastungen und Biegungen verkraften zu können. Stahl kann mit seiner höheren Elastizität wiederholten Biegekräften widerstehen, was ein Materialversagen unwahrscheinlich macht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Dichte von Stahl die Steifigkeit eines Rahmens einschränkt, wenn er ein vernünftiges Gewicht haben soll. Die Wandstärken müssen vergleichsweise dünn sein, damit der Rahmen nicht in der Schwergewichtsklasse spielt, das macht ihn zum Glück aber nicht automatisch instabil. Denn die höhere Dauerfestigkeit von Stahl ermöglicht eine Rahmenkonstruktion mit schlanken Rohren, die ein gewisses Maß an Flex und Komfort bieten, aber stark genug sind, um alle „normalen Gebrauchskräfte“ problemlos wegzustecken. Stahlrahmen sind meist echt zäh und nahezu unbegrenzt haltbar.

Ein ordentlich verarbeiteter Stahlrahmen ist langlebiger als jeder Alu- oder Carbonrahmen. Seine Dauerfestigkeit ist höher und Schläge werden einfach weggesteckt.

Auf welches Label sollte man achten?

Puristen werden fast schon zu Dichtern, wenn sie über die einzigartigen Eigenschaften der verschiedenen Stahlsorten schwärmen. Ist 853 besser als 4130? Kann man einen höherwertigen Stahl „fühlen“? Alle Stähle haben unabhängig von ihrer Zusammensetzung den gleichen Elastizitätsmodul, ein Maß für die Rohrsteifigkeit. Deshalb ist bei gleichen Abmessungen selbst der noch so gehypte Spezialstahl nicht „steifer“ als der Stahl, den man in Gerüststangen oder den billigsten Baumarkt-Bikes findet. Ein Bike, das aus billigen Rohren hergestellt wird, wird nicht weniger steif sein als ein identisches Bike aus dem teuersten Stahl. Es wird jedoch nicht so stabil sein.

Billiger Stahl wie der Baustahl, der für Billigfahrräder verwendet wird, hat eine geringere Streckgrenze, wodurch dickwandigere Rohre erforderlich sind, um die erforderliche Stoß- und Knickfestigkeit zu gewährleisten – das bedeutet wiederum mehr Gewicht. Qualitativ hochwertigere Stähle wie 4130 CrMo oder Reynolds 531 und 853 haben eine viel höhere Streckgrenze, weshalb dünnwandige, leichtere Rohre verwendet werden können. Es gibt jedoch eine Grenze, ab der ein Stahlrahmen einfach zu dünn wird. Diese Grenze gibt auch den Ton an, wenn es um das Gewicht des Rahmens geht. Einige Stähle, wie 4130, können während des Schweißprozesses geschwächt werden und benötigen eine weitere Wärmebehandlung, um die Festigkeit wiederherzustellen. Andere, wie der teure Reynolds 853, gewinnen nach dem Schweißen durch das Abkühlen an der Luft an Festigkeit. Rahmenbauer müssen auch das sogenannte Butting der Rohre in Betracht ziehen, bei dem der äußere Rohrdurchmesser konstant ist, aber die Wandstärke innen variiert. Die Konstruktion eines Stahlrahmens ist ein Balanceakt. Man muss sich im Klaren sein, dass es nicht immer das Beste ist, ein Stahl-Bike nur aufgrund des schicken Aufklebers auf dem Unterrohr zu kaufen. Stattdessen sollte man sich darauf konzentrieren, ob der Konstrukteur die Rohrformen, Wandstärken und Durchmesser berücksichtigt hat, um dem Rahmen den gewünschten Flex und die optimale Performance zu verleihen.

Macht Stahl bei einem Enduro-Bike Sinn?

Die elastischen Eigenschaften von Stahl mögen für einen Hardtail-Rahmen durchaus sinnvoll sein, aber sind sie das auch für ein knallhartes Enduro-Bike? Die Begriffe Nachgiebigkeit und Steifigkeit haben zwar ähnliche Definitionen, aber es gibt einen großen Unterschied zwischen ihnen. Ein vollgefedertes Enduro-Bike muss auf den rauesten Trails souverän abliefern. Es muss steif genug sein, um direkte Linien durch Rockguardens zu verkraften, und nachgiebig genug, um uns bei großen Jumps oder meterlangen Bremswellen nicht die Zahnfüllung aus dem Gebiss zu schütteln. Wenn es um Steifigkeit geht, gelten Aluminium und Carbon als die Benchmark, wenn sie richtig eingesetzt werden. Es werden Rohre mit großem Durchmesser verwendet, um steife und starke Rahmen zu konstruieren. Die Federung sorgt für Komfort und Kontrolle. Wenn mit Stahl aber keine dicken Rohre möglich sind – kann er dann trotzdem ein geeignetes Material für ein vollgefedertes Bike sein?

Drei Bikes, drei Hersteller, drei Konzepte

Um herauszufinden, ob es Stahl immer noch bringt, haben wir drei Bikes mit Stahlrahmen auf den schottischen Trails dem Test unterzogen. Starten wir mit dem Star in unserem Line-up: Das Cotic RocketMAX verbindet einen starken Reynolds 853-Hauptrahmen mit einem 6066-T6-Aluminium-Hinterbau. Die Konstrukteure wollten das Beste beider Welten miteinander kombinieren. Und wenn es um Leistung geht, nimmt es das RocketMAX tatsächlich mit den besten Aluminium- und Carbon-Enduros auf! Wir haben auch das Pipedream Full Moxie getestet, dessen schlanke Rahmensilhouette und schlanke Streben die Ästhetik von Stahl unterstreichen. Der kurze Federweg und die aggressive Geometrie ergeben ein sehr ausgewogenes Bike. Unser Testfeld vervollständigt das Starling Twist. Es ist die perfekte Definition des Grundsatzes „Weniger ist mehr“. Im Gegensatz zu seinem simplen Fahrwerk und den klassischen Linien stehen der moderne Laufrad-Mix aus 29/27,5″ und der Stahlfederdämpfer. Wir hatten mit diesem Test der drei Bikes viele Fragen zu beantworten: Bietet Stahl als Rahmenmaterial Vorteile? Fühlt sich Stahl anders an als Carbon oder Aluminium? Ist der Flex gut? Eine Antwort hatten wir aber ereits – nach monatelangem Stillstand konnten wir es kaum erwarten, die Bikes zu testen!

Warum zum Teufel soll ich ein Stahl-Bike kaufen?

Nostalgie beiseite, lohnt sich ein vollgefedertes Stahl-Bike wirklich? Da die Preise unserer Testräder zwischen 4.000 und 5.000 € liegen, könntet ihr für euer Geld in Wahrheit ein Mega-Bike aus Carbon oder Alu bekommen. Schaut euch nur das Nukeproof Mega 290, das YT JEFFSY oder das Canyon Strive an, die alle mit den besten Komponenten ausgestattet sind und die Stahlräder preislich klar unterbieten! Bekommt ihr mehr Performance, wenn ihr ein Stahl-Bike kauft? Nein, ganz und gar nicht. Für den gleichen Preis bekommt ihr ein leichteres Bike mit besseren Komponenten, wenn ihr euch für Aluminium oder Carbon entscheidet. Was ihr jedoch mit einem Stahl-Bike bekommt, ist etwas Besonderes. Stahlräder sind robuster, langlebiger und zeichnen ihren Besitzer als eine Art Querdenker aus. In vielen Fällen werden die Rahmen auf Bestellung gefertigt und bieten sogar eine maßgeschneiderte Geometrie.

An diesem Punkt könnte man über klassische und moderne Autos romantisieren. Wollt ihr eine kurvige Landstraße lieber in einem Ford Focus ST oder einem Triumph Spitfire erleben? Diese Metapher greift hier aber nicht wirklich. Denn die Bikes, die wir getestet haben, sind weit entfernt von traditionellen Klassikern – sie zeichnen sich durch eine zeitgemäße Geometrie und ein modernes Fahrverhalten aus. Und ein Bike definiert sich durch sein Fahrverhalten und nicht durch das Rahmenmaterial. Für die meisten ist das schlanke Design der Stahlräder im Vergleich zu den sexy hydrogeformten Konkurrenten wenig attraktiv, aber für andere ist Stahl wegen genau dieser Ästhetik und Haltbarkeit unwiderstehlich.

Die Konkurrenz

Cotic RocketMAX Gen3 (Zum Test) | 160/160 mm (v/h)
15,40 kg in Größe L | 5.575 €
Pipedream The Full Moxie (Zum Test) | 150/146 mm (v/h)
16,10 kg in Größe Long | 4.070 €
Starling Twist (Zum Test) | 160/160 mm (v/h)
15,90 kg in Größe L | 5.226 €

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Text: Fotos: Trev Worsey, Finlay Annderson