Know-How

Super Boost Plus – Ergibt 157 x 12 mm wirklich Sinn?

2016 sorgte das Trail-Bike Switchblade mit einem kleinen Detail für Aufsehen: dem 157 mm breiten Hinterbau „Super Boost Plus“. Die Frage damals? Setzt sich der Standard durch? Jahr 2020: Der Durchbruch blieb aus, doch man sieht ein paar weitere Bikes mit 157 mm Hinterbau. Die Frage bleibt: Macht der Standard überhaupt Sinn und setzt er sich durch?

Das im Jahr 2016 vorgestellte Pivot Switchblade war das erste Rad mit Super Boost Plus 157 mm Hinterbau

Was ist Super Boost Plus?

Super Boost Plus, kurz SB+, ist ein „Standard“ der Hinterachsbreite von Trail- und Enduro-Bikes. SB+ wurde 2016 von Pivot Cycles eingeführt und soll eine erhöhte Hinterrad- und Rahmensteifigkeit bieten im Vergleich zum bisherigen Boost-Standard mit 148 mm. Das Maß 157 mm kommt nicht von ungefähr: Es stammt aus der Welt der Downhill-Bikes, die seit einiger Zeit die gleiche Nabenbreite verwenden, jedoch ohne den extra breiten Flanschabstand. Durch den größeren Abstand der Ausfallenden wird auch das Maß der Kettenlinie auf 56 mm erhöht. Ursprünglich nur von Pivot verwendet, wird Super Boost Plus nun von einer Reihe von Marken wie Evil, Knolly (die es 157TRAIL nennen) und Devinci verwendet.

Hier sieht man die verschiedenen Naben-Standards und wie sich die Kettenlinie verändert. Super Boost Plus und DH 157 mm nutzen die gleiche Einbaubreite. Im Vergleich zum bisherigen Boost 148 mm ist die Kettenlinie nach außen gerückt.

Was ist der Unterschied zwischen Boost 148 und Super Boost Plus 157?

Der größte Vorteil von 157 mm Super Boost Plus sollen die breiteren Naben sein, die einen größeren Flanschabstand ermöglichen. Je weiter die Flansche (der Teil der Nabe, an dem die Speichen befestigt sind) auseinander liegen, desto größer ist der Speichenwinkel. Ebenso wichtig ist das Verhältnis zwischen den antriebs- und nicht antriebsseitigen Speichenwinkeln. Im Idealfall sind beide Winkel gleich groß, was zur gleichen Speichenspannung auf beiden Seiten führt. Dies ist jedoch in der Praxis bei Boost 148 nicht möglich, da die Kassette auf der Nabe viel Platz wegnimmt, wodurch der antriebsseitige Flansch weiter nach innen versetzt werden muss. Die Flansche sitzen also nicht symmetrisch auf der Nabe, sondern werden zur Nicht-Antriebsseite hin verschoben. Die Felge wird über der Nabe zentriert, nicht über den Flanschen. Dies führt zu einem Versatz, der auch als Dish bezeichnet wird.

Die symmetrische Position des Flansch über der Mitte der DH-157-Nabe ermöglicht einen komplett gleichen Speichenwinkel auf beiden Seiten …
… bei Super Boost Plus dagegen sind die Speichenwinkel aufgrund des assymetrischen Flanschabstands nicht gleich
Bei allen Naben wird die Felge zentral über der Mitte eingespeicht. Durch den assymetrischen Flansch-Abstand, wie er auch bei Super Boost Plus vorhanden ist, sitzt die Felge nicht mittig über den Flanschen. Dieses Offset wird als Dish bezeichnet.

Im Vergleich zu Boost 148 ermöglicht SB+ ein gleichmäßigeres Verhältnis der Speichenspannung zwischen den Speichen auf der Antriebsseite und der Nicht-Antriebsseite. Super Boost Plus-Laufräder haben ein „Dish-Verhältnis“ von etwa 60/40, im Vergleich zu Boost 148, das ein weniger gleichmäßiges „Dish-Verhältnis“ von 62/38 hat. Je weniger Dish erforderlich ist, desto gleichmäßiger ist das Spannungsverhältnis und desto stabiler ist das Laufrad.

Fun Fact für alle Super Boost Plus-Kritiker: Bei DH-157-Naben ist Speichenspannung zwischen den Seiten identisch.

Der Speichenwinkel zwischen den beiden Seiten ist bei Super Boost Plus nur minimal ausgewogener als bei Boost 148, aber noch immer weit vom optimalen 50/50-Verhältnis entfernt, wie ihn 157-DH-Naben bereits bieten

Was sind die angeblichen Vorteile von Super Boost Plus?

Der größere Flanschabstand, der durch Super Boost Plus-Naben erreicht wird, führt zu einer steiferen Laufrad-Konstruktion. Das ist besonders für langhubige 29er und E-MTBs, bei denen die Radlasten oft sehr hoch sind, von Vorteil. Wir sind zwar ein großer Fan von robusten und langlebigen Laufrädern, aber eine erhöhte Steifigkeit allein ist nicht automatisch besser. Da sich die Kettenlinie weiter nach außen verschiebt, bietet die Verwendung von SB+ den Fahrrad-Konstrukteuren mehr Raum und Platz bei der Gestaltung der antriebsseitigen Kettenstrebe. Je nach Konstruktion kann die Reifenfreiheit und/oder die Steifigkeit des Hinterbaus erhöht und/oder die Kettenstreben verkürzt werden. Bei dem aktuellen Trend von 29 x 2,5″ haben wir jedoch selten Probleme mit der Reifenfreiheit, zumal die super breiten 2,8″ Plus-Reifen fast von der Bildfläche verschwunden sind – wir werden sie nicht vermissen. Was die steiferen und kürzeren Hinterbauten betrifft, so sollten diese Faktoren auch zur Gesamtgeometrie und zum Verwendungszweck des Bikes passen. Die besten Enduro- und Trail-Bikes sind bereits sehr steif, und es kommt ein Punkt, an dem eine erhöhte Steifigkeit zu einem unangenehmen Fahrgefühl führen kann.

Zu den angeblichen Vorteilen von Super Boost Plus gehören stabilere Laufräder, steifere Rahmen und mehr Reifenfreiheit

Was sind die Nachteile?

Der erste Nachteil ist wenig überraschend – es ist ein neuer Standard. Bevor wir aber lauter übereilte Kommentare verfassen, sollten wir daran denken, dass ohne neue Standards keine Innovation möglich ist. Die eigentliche Frage ist, ob die Verbesserungen die Nachteile aufwiegen.

Kompatibilität

Natürlich bringt ein neuer Standard Kompatibilitätsprobleme mit sich. Super Boost Plus erfordert nicht nur neue 157-mm-Naben, sondern auch Kurbeln und Kettenblätter, die mit der 56-mm-Kettenlinie kompatibel sind. Die gute Nachricht für SB+ Fans und alle, die umsteigen wollen: Alle großen Hersteller von Antrieben, Laufrädern und Kettenblättern bieten jetzt Super Boost Plus kompatible Komponenten an.

Q-Faktor

Aufgrund der breiteren Ausfallenden und Kettenstreben und um die geforderte Kettenlinie von 56 mm zu erreichen, mussten die Hersteller breitere Kurbeln für Super Boost Plus-Rahmen entwickeln. Das Ergebnis ist ein größerer Q-Faktor, also der Abstand von der Außenseite des einen Kurbelarms zur Außenseite des anderen. Je größer der Q-Faktor, desto weiter sind die Füße auf den Pedalen auseinander. Bei einem Standard-Tretlager mit 93 mm Press-Fit oder 73 mm Gewinde liegt der Q-Faktor eines Super Boost Plus-Bikes bei 173–177 mm, im Vergleich zu 168–177 mm bei einem Boost 148-Bike. Das ist jedoch nur für XC-Fahrer eine wirkliche Veränderung, da Enduro-Fahrer in der Regel ohnehin breitere Pedale mit 177 mm Q-Faktor-Kurbeln verwenden.

Das Reiben der Fersen kann ein Problem sein

Ein potenzieller Nachteil der breiteren Kettenstreben und der erhöhten Reifenfreiheit ist das Scheuern der Ferse an den Kettenstreben. Der Platz zwischen Kettenstrebe und Ferse verringert sich, was beim Pedalieren zu störendem Scheuern führen kann.

Wir haben beim Testen schon häufig mit gebrochenen Felgen zu tun gehabt, können uns aber nicht erinnern, wann wir das letzte Mal eine Speiche zerrissen haben … . Gibt es wirklich ein Problem mit der Stabilität unserer Laufräder? Das glauben weder wir noch die Experten von DT Swiss.

Was denkt die Bike-Industrie?

Wir haben uns an eine Reihe der größten Akteure der Branche gewandt, um ihre Meinung zum Thema SB+ zu erfahren. Ist Super Boost Plus tot oder wird es bleiben? Pivot, die den Standard 2016 eingeführt haben, stehen noch immer sehr hinter der Idee und haben den Standard für ihr neuestes Allrounder-Trailbike, das Pivot Switchblade 2020, verwendet.

„Bei Pivot sind wir in der Lage, ein Bike mit mehr Reifenfreiheit, höherer Stabilität und Steifigkeit in Schlüsselbereichen zu konstruieren – manchmal mit geringerem Gewicht aufgrund besserer Optimierung. Außerdem ist die Speichenspannung gleichmäßiger, was der Laufrad-Struktur ebenfalls eine große Haltbarkeit verleiht. Ich sehe es als DEN Trail- und Longtravel-Bike-Standard. Es gibt wirklich keine Nachteile, wenn man die XC-Kategorie nicht miteinbezieht. Ich glaube nicht, dass es der beste Standard für XC-Bikes ist. Diese Bikes sind generell nicht so massiv und dort zählt einfach jedes Gramm.“

Pivot hat den Standard 2016 eingeführt und steht noch immer voll dahinter

Canyon führt immer noch Untersuchungen durch und die Ergebnisse sprechen zum Teil für als auch gegen den SB+ Standard. Der neue Achsstandard hat jedoch nicht höchste Priorität bei Canyon, da sie bereits mit den Eigenschaften zufrieden sind, die sie mit Boost 148 mm erzielt haben.

MERIDA hatte eine differenzierte Ansicht zu SB+. Sie behaupten, dass es durch den breiten Hinterbau schnell zum Reiben der Fersen am Rahmen kommen kann. Außerdem würden sich im neuen Standard aktuelle Laufräder nicht wieder nutzen lassen. Um dennoch mehr Freiheit in der Konstruktion zu erhalten, nutzen sie eine neue Shimano-Kurbel mit 55-mm-Kettenlinie. Diese bietet ihnen 3 mm mehr Platz, um so die Steifigkeit zu erhöhen und gleichzeitig weiterhin ein klassisches 148-mm-Hinterrad nutzen zu können.

Trek hält weiterhin an Boost 148 fest, dem Standard, den sie einst selbst ins Leben gerufen haben

Als wir uns an Trek wandten, antworteten sie mit einer ähnlichen Anti-SB+ Meinung: „Wir werden in naher Zukunft keinen 157-mm-Hinterbau einführen. Es ist nicht aus Mangel an Pioniergeist … . Wir haben uns das genau angesehen und die Nachteile, auf 157 mm zu wechseln, sind die kleinen Benefits nicht wert. Wir können schon jetzt mit 148 mm und einem guten Zusammenspiel aus Rahmen und Antrieb die gewünschte Performance erreichen.“

Aus Sicht unseres Kundenservice und auch durch unser Testlabor und Feldtests bestätigt, sehen wir keinen Anlass, den etablierten 148 mm Boost-Standard abzulösen. – DT SWISS

Aber was sagen die Rad- und Naben-Hersteller? Wir haben die Branchenriesen von DT Swiss nach ihrer Meinung gefragt: „Bei der Umstellung von 142 mm- auf 148 mm-Boost konnten wir bereits einen flacheren Speichenwinkel realisieren, was zu einem nicht nur steiferen, sondern vor allem stabilerem Laufradbau geführt hat. Der alte 157 mm DH-Standard war durch seinen symmetrischen und breiten Flanschabstand dem Boost-Standard sogar ein Stück überlegen. Mit dem neuen 157 Superboost-Standard wandert lediglich der linke Flansch deutlich Richtung Bremsaufnahme, was einen noch flacheren Speichenwinkel zur Folge hat. In der Theorie haben alle Standards ihre Vor- und Nachteile – wichtig ist es aber, das Fahrrad als Gesamtsystem zu sehen. Aus Sicht unseres Kundenservice und auch durch unser Testlabor und Feldtests bestätigt, sehen wir keinen Anlass, den etablierten Boost-Standard abzulösen. Als Zulieferer der Bike-Industrie kommen wir aber den Wünschen der Bike-Hersteller und Kunden entgegen und stehen natürlich keiner Innovation im Wege. Ein weiterer Standard schafft nur noch mehr Verwirrung für den Endkonsumenten, daher werden wir in naher Zukunft alle 157-mm-Naben mit dem breiten Superboost Flanschabstand konstruieren. Für den Downhill-Einsatz dieser Naben ändert sich – außer unterschiedlicher Speichenlängen – im Prinzip nichts.“

Was ist die Meinung von ENDURO zu SB+ 157?

Zunächst einmal: Man darf die Performance eines Bikes nicht vom Standard des Hinterbaus ableiten – Super Boost Plus macht ein schlechtes Bike nicht gut und ein gutes Bike nicht schlecht. SB+ ermöglicht auf dem Papier die Konstruktion von stabileren Laufrädern, steiferen Rahmen und liefert mehr Reifenfreiheit. Jedoch sind diese Vorteile nur marginal. Im Laufe der Jahre hatten wir keine wirklichen Probleme mit dem aktuellen Boost 148 mm-Standard – und er ist schon seit geraumer Zeit DER „Standard“. Unserer Meinung nach wiegen die Vorteile nicht die Tatsache auf, dass viele Fahrer nach dem Kauf eines neuen SB+ Bikes mit nutzlosen Laufrädern dastehen und es eine noch komplexere Ersatzteilversorgung gibt. Es gibt viele Möglichkeiten, ein Bike zu verbessern – den einfachen Weg zu gehen und einen neuen Standard mit nur geringen Vorteilen einzuführen, ist unserer Meinung nach nicht der richtige.

Für alle Bike-Nerds zeigt diese Grafik noch einmal alle Unterschiede in der Kettenlinie, dem Flansch-Abstand und der Einbaubreite der verschiedenen Standards

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Text: Fotos: Diverse