Zwischen den Racebikes sitzt die 16-jährige Hattie, das Gesicht tief im Schulbuch vergraben. „Hattie hat bald Prüfungen und Schule geht nun mal vor“, ruft Tracy in gespielt mütterlichem Ton aus dem Bus. Drinnen ist heute die 17-jährige Meg an der Reihe, das gemeinsame Mittagessen zuzubereiten. Hier läuft es anders als in den anderen Racepits: Beim T-MO Raceteam ist man Teil einer Familie.
Wenn ihr bisher noch nichts von Megan James und Hattie Harnden gehört habt, wird sich das bald ändern, denn schon jetzt haben sie mehr Podiumsplatzierungen eingeheimst als die meisten erfahrenen Spitzenprofis. Auf ihren Roots-and-Rain-Profilen findet man eine beeindruckende Zahl an Siegen, aber noch beeindruckender ist die Bandbreite der Disziplinen: die britischen Cyclocross-, XC-und Enduro-Meisterschaften und zwei Siege beim UCI Downhill-Worldcup – eine sehr ordentliche Bilanz. In Zeiten strikter Entwicklungsverläufe und sehr ernst auftretender nationaler Sportvereinigungen für einzelne Disziplinen ist ein Mehr-Disziplinen-Ansatz selten, aber es überrascht gleich weniger, wenn man bedenkt, dass Coach und Mentorin der beiden keine Geringere ist als Tracy Moseley.
Tracys Geschichte wurde oft erzählt und ist hinreichend bekannt. Bekäme sie einen Euro für jedes Mal, wo jemand sie fragt „Und was ist jetzt anders bei Enduro als bei Downhill?“, dann hätte sie wohl ein deutlich größeres Wohnmobil. Doch ihr Ruhm ist wohlverdient – gibt es eine erfolgreichere Mountainbikerin? Tracy lag bei so vielen Events in so vielen Ländern an der Spitze, dass man sie kaum zählen kann. Ihr kühler Kopf, ihre wahnsinnige Geschwindigkeit und ihre tiefe Liebe zum Mountainbiken machen sie zur ultimativen Racerin, zum Champion der Fans, zum Vorbild und zur besten Botschafterin für ein Leben auf zwei Rädern.
T-MO Racing entstand 2012 aus einer Notwendigkeit heraus. Nach einer erfolgreichen Downhill-Karriere hatte Tracy nur noch begrenzt Zeit zum Fahren und war kurz davor, das Handtuch zu werfen. Doch dann nahm die Grassroots-Enduro-Bewegung Fahrt auf und Tracy sah das Potenzial, die neue Herausforderung, mehr Zeit auf dem Bike, mehr Abenteuer. Ihre Leidenschaft war entfacht, doch sie brauchte ein Team. Das war damals lange, bevor die EWS Enduro eine Identität verlieh und es zum globalen Phänomen machte, deshalb gründete Tracy ihr eigenes Team. Man sagte ihr, es würde eine Marke, eine Identität brauchen, um erfolgreich zu sein, und da lag es nahe, ihren Spitznamen dafür zu benutzen. Das war die Geburtsstunde von T-MO Racing. Tracy unterhielt weiterhin enge Beziehungen zu Trek Großbritannien, die ihr anfangs mit dem Equipment halfen. So hatte sie den Spielraum, sich in XC Eliminator Weltcups auszuprobieren und sich die Endurorennen auszusuchen, auf die sie Lust hatte. Zwei Jahre lang nahm sie auf diese Weise an Rennen teil, selbst das erste EWS-Jahr bestritt sie so. Fast schon als Privateers fuhren Tracy und ihr heutiger Mann James im Wohnwagen zu den Rennen, übernachteten in den Pits, nicht in schicken Hotels – und Tracy war super erfolgreich. Dann wurde Trek USA aufmerksam und die Dinge änderten sich.
2014 wurde das Trek Enduro Factory Team gegründet, doch Tracy wollte T-MO Racing am Leben erhalten, also brauchte es einen neuen Zweck. Bei einer Tour mit einem britischen XC-Racing-Team wurde Tracy bewusst, welche Auswirkungen die brutale Selektion auf die jungen Fahrer hatte. Wer nicht die erwartete Leistung brachte, war weg vom Fenster. Viele Nachwuchsfahrer mit hervorragendem fahrerischen Können und viel Potenzial fielen durch das Raster des Systems. Tracy ging das nicht mehr aus dem Kopf – und die Idee für die Zukunft von T-MO war geboren. Unter Einsatz ihrer eigenen Sponsoren, Erfahrung, Beziehungen und schließlich auch ihres eigenen Gelds wollte Tracy einigen dieser zukünftigen Stars helfen und ihnen die Möglichkeiten bieten, die sie selbst hatte. Nicht, damit ihr jemand auf die Schulter klopfte oder die Medien sie dafür lobten, sondern um dem Sport etwas zurückzugeben, der so lange ihr Leben gewesen war.
„Ich finde es super, dass ich so viel ausprobieren kann! Mir macht jede Disziplin im Radsport Spaß, und ich möchte denselben Weg nehmen wie Tracy und mich nicht nur auf eine Disziplin beschränken. Ich glaube, Abwechslung ist sehr wichtig beim Biken und bringt einen in vielen Bereichen weiter. Bei ihr hat es offensichtlich funktioniert. Sie hat’s überall drauf, was einfach großartig und inspirierend ist.“ Meg James
Bei einer Ferienausfahrt mit einem Bike-Club für Kinder lernte sie Hattie kennen. „Ich konnte es nicht fassen. Da war dieses kleine Mädchen auf einem schrottigen alten Bike, und ich konnte sie einfach nicht abschütteln,“ erzählt Tracy lachend. Sie sah das immense Potenzial und besorgte ein besseres Bike für Hattie, damit sie den nächsten Schritt machen konnte. Hattie war sehr auf XC fokussiert, aber Tracy war schon immer davon überzeugt, dass es gut ist, möglichst viele verschiedene Disziplinen zu fahren. Deshalb wollte sie jemanden im Team haben, der Hattie in anderen Bereichen voranbringen konnte. 2015 lernte sie Meg auf einem XC-Rennen kennen, ein winziges Mädchen hinter einem unglaublich schmalen Lenker, das die Trails runterheizte und der nächste DH-Champion werden wollte. Da wusste Tracy, dass sie die perfekte Teamkollegin für Hattie vor sich hatte. T-MO Racing hatte seine Stars gefunden.
Als Tracy ihren Weg im Sport begann, gab es keine Coaches, man lernte Dinge durch Ausprobieren. „Heute wollen die Kids es einfach in ein Team schaffen und das setzt sie so früh unter so großen Druck“, sagt Tracy. „Das kann dazu führen, dass sie sich übernehmen, sich verletzen und in den Jahren darauf weniger Freude haben. So gehen Talente verloren.“ Tracys Fokus liegt darauf, dass die Kids mehr Zeit auf dem Bike verbringen und Erfahrungen in verschiedenen Disziplinen machen. Sie leitet sie an, indem sie ihre Fragen beantwortet und nicht, indem sie ihnen einen Weg vorschreibt. Tracy will nicht die Art von Coach sein, die anordnet, welche Line die richtige ist. Stattdessen will sie, dass die Mädels ihren eigenen Stil finden, Spaß haben und lernen, wenn sie wollen. Meg erzählt uns beim Kochen vom besten Rat, den sie von Tracy bekommen hat: „Mir hat es sehr viel gebracht, dass sie mir sagte, das Wichtigste sei, smooth zu fahren, nicht immer auf 100 %. Das hat mich davon abgehalten, in jeder Kurve viel zu schnell zu fahren, wodurch ich wohl viel öfter gestürzt wäre.“ (Anm. d. Red.: Seit dieser Artikel verfasst wurde, hat Meg leider einen schweren Sturz erlitten. Gute Besserung, Meg!)
„Tracy hat mir die Möglichkeit geboten, wettkampfmäßig Rad zu fahren. Ohne sie hätte ich da nicht mal drüber nachgedacht.“ Hattie Harnden
T-MO Racing fühlt sich sehr grassrootsmäßig an, auch wenn das Team intensiv von Trek unterstützt wird. „Man macht sich leicht Sorgen darüber, ob die Mädels ein Gefühl dafür haben, was das Zeug kostet“, meint Tracy. „Wenn man so jung ist und alles auf dem Silbertablett serviert bekommt, ist es entscheidend, dass man respektvoll mit dem Equipment umgeht. Das lernt man erst, wenn man mal eigenes Geld dafür ausgegeben hat.“ Die Bikes sind für ein Jahr geliehen, danach werden sie zurückgeschickt, und James achtet darauf, dass sie gut behandelt werden. Das Team von Cycle Jersey hat sämtliche Trikots produziert und die restliche Ausstattung kommt von Tracys eigenen Sponsoren. Indem sie alles etwas gemäßigter aufzieht, verringert sie den Leistungsdruck, unter dem die Mädchen stehen. Sie möchte, dass sie die Chance haben, zu tun was sie gerne tun. Sie will ihnen helfen, die Rennen zu fahren, die sie fahren wollen. Für Meg ist klar, dass sich das lohnt: „Ich finde es super, dass ich so viel ausprobieren kann! Mir macht jede Disziplin im Radsport Spaß, und ich möchte denselben Weg nehmen wie Tracy und mich nicht nur auf eine Disziplin beschränken. Ich glaube, Abwechslung ist sehr wichtig beim Biken und bringt einen in vielen Bereichen weiter. Bei ihr hat es offensichtlich funktioniert. Sie hat’s überall drauf, was einfach großartig und inspirierend ist.“ Hattie schaut von ihrem Schulbuch auf und ergänzt: „Es hat mich stärker gemacht, als ich je hätte sein können, wenn ich mich nur auf eine Disziplin konzentriert hätte. Und es hat dazu geführt, dass ich mehr Respekt vor den Fahrern in anderen Disziplinen habe, nachdem ich es selbst probiert habe.“
Tracy hat eine klare Vorstellung von der Rolle, die das Team spielt. „T-MO Racing ist ein Sprungbrett für eine Profikarriere – ich kann ihnen nicht die komplette Unterstützung bieten, die man für eine Weltcup-Karriere braucht, aber es ist mir eine Ehre, ein Teil ihrer Entwicklung zu sein.“ Während ich dem Team über die Stages der britischen Enduro-Meisterschaft folge, fällt mir auf, wie nah die drei einander stehen. Freundschaftliches Gefrotzel und Humor sind allgegenwärtig, während die Mädels das Tempo für den Tag angeben. Als ein großer Steindrop für Nervosität sorgt, ist Tracy sofort mit Rat zur Stelle: „Versucht euch nicht so sehr auf die eine Stelle zu konzentrieren, an der ihr wahrscheinlich zu kämpfen habt. Konzentriert euch lieber auf die Abschnitte, bei denen ihr Zeit rausholen werdet. Konzentriert euch auf eure Stärken, auf die guten Sachen und darauf, wie ihr Fortschritte machen könnt.“
Die Stars des Sports stehen heute noch mehr in der Öffentlichkeit als je zuvor. Da passiert es leicht, dass junge Fahrer sie vergöttern und sich zu extrem spezialisieren, und viele von ihnen sind ausgebrannt, schon bevor es richtig losgeht. Deshalb ist Tracys Ansatz so erfrischend: Fahr zum Spaß, fahr die Rennen, auf die du Bock hast, lerne und sei gut in der Schule – und genieße vor allem deine Zeit auf dem Bike. Wenn man sieht, wie Hattie und Meg in jeder Disziplin brillieren, scheint sich der Kreis zu schließen.
Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als ENDURO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die Mountainbike-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!
Text & Fotos: