In ihrer Heimatstadt Peebles, tief im schottischen Tweed Valley, ist die Enduro-Racerin Katy Winton der Inbegriff eines Local Hero. Doch was treibt sie an, die Frau, die es in der schottischen Hügellandschaft zu etwas ganz Großem gebracht hat?

Ist es gerade diese Hügellandschaft, die inspiriert? Verspürt man dort ein tiefes Verlangen, jegliche Anhöhen zu erklimmen, wann immer man seinen Blick in die Ferne schweifen lässt? Vielleicht ist das der Grund, weshalb das Tweed-Tal einen bemerkenswert großen Anteil an Weltspitzenfahrern im Mountainbike-Bereich hervorbringt.

In den letzten fünf Jahren hat sich die Enduro World Series (EWS) zum Zentrum dieser internationalen Racing-Szene entwickelt. In diesem Wettkampf stellen sich die schnellsten Racer der Welt den Herausforderungen an einigen der exotischen und berühmtesten Destinationen der Welt. Für das Trek Factory Racing-Team bei der Jagd auf den oberen Podiumsplätzen am Start: Katy Winton, die Königin des Tweed Valley und Dritte der EWS-Gesamtwertung.

Wenn man Katy trifft, offenbart sich schon nach wenigen Augenblicken ein Gegensatz: Sie ist quirlig, begeistert und für jeden Spaß zu haben, doch sie wechselt mühelos in einen Modus abgeklärter Besonnenheit, wie sie nur die frühe Begegnung mit Erfolgen – und Niederlagen – hervorbringen kann. Katy sollte wohl schon immer Racerin werden, sie wuchs in einer Bike-verrückten Gegend inmitten einer noch Bike-verrückteren Familie auf. Was ist es also, das so viele starke, wettkampforientierte Athleten aus diesem kleinen Winkel Schottlands hervorbringt? Katy hat sofort eine Erklärung parat: „Hier ist für mich der Ort, wo alles angefangen hat, wo ich Glentress und die Berge mit dem Peebles Cycling Club erkundet habe. In diesem Tal zu fahren, öffnete mir den Blick für verschiedene Arten von Trails, von Landschaften und neue Horizonte. Hier fing alles an, und hier geht es für mich immer noch weiter.“ Als sie mit dem Biken anfing, müssen die Hügel rund um ihr Zuhause auf sie gewirkt haben wie ein mächtiges Gebirge, Herausforderungen, die es zu meistern galt. Nun bieten sie Trainingsmöglichkeiten und auch eine willkommene Abwechslung vom intensiven Racing auf Trails, die zu den anspruchsvollsten der Welt gehören.

Mit ihren gerade mal 25 Jahren hat Katy schon jede Menge Racing-Erfahrung gesammelt. Wir stehen gerade auf dem höchsten Punkt der Cademuir-Bergkette – einen Katzensprung von Katys Haus entfernt – und sie erzählt von ihrem allerersten Sieg. „Es ist schon lustig, ich hatte mich in der ganzen Woche vor dem Rennen um 6 Uhr morgens aus dem Bett gequält, damit mich der frühe Start am Renntag nicht so unerwartet umhauen würde.“ Das Rennen, die britische Junioren-XC-Meisterschaft, fand auf ihren Hometrails statt und Katy fuhr mit über zweieinhalb Minuten Vorsprung zum Sieg. Das war der entscheidende Moment: Katy wollte professionelle MTB-Rennfahrerin werden. Zum Glück wohnt sie ganz in der Nähe von Schottlands Sahnestück, Glentress. Das berühmte Trailcenter hatte ganz klar Einfluss auf den weiteren Verlauf ihrer Karriere. „Ich erinnere mich, wie der Spooky-Wood-Trail eröffnet wurde. Wir Kids fuhren dort wie wild hoch und es war ein so unglaubliches Gefühl, letztendlich dort oben angekommen zu sein. Auch jetzt freue ich mich jedes Mal, wenn ich wieder dort bin“. Katys Stimme bekommt einen ganz weichen Klang: „Es gibt hier eine ganz besondere Verbindung mit dem Land, ich liebe es einfach, ob du auf dem Bike unterwegs bist, auf dem Pferd oder auch nur zu Fuß. In den Bergen zu sein ist für mich das wahre Leben. Man kann überall hingehen, wo man will, kann entdecken, seine Stärken und Leidenschaften ausleben und entfliehen – egal ob man jung ist oder alt, die Berge sind immer gleich, sie sind immer da.“

Lange konnte ich mir nicht vorstellen, dass es irgendwo höhere Berge gibt als in der Region rund um Glentress.

Seit ihren frühen Abenteuern in den Bergen um Peebles hat sich Katy im Tweed Valley zum Megastar gemausert, sie ist der Inbegriff eines „Local Hero“. Niemand wird bei den beliebten Tweedlove-Rennen mehr bejubelt als „Miss Winton“. Wer sieht, wie Katy durch ein Meer von überdrehten Kids navigiert, die alle ein High-Five von ihrem Vorbild wollen, versteht, welchen Stellenwert sie hier hat. Ihr Erfolg im Rennzirkus hat viele Jugendliche angesteckt, aber vielleicht noch inspirierender ist der Einsatz, den sie bringt, um die Freude am Radfahren zu verbreiten. Sie arbeitet ehrenamtlich mit Schulen und Vereinen, erzählt jederzeit gerne von ihren Erfahrungen und gibt unumwunden zu, dass die Schule ihr nicht leicht gefallen ist. „Das Radfahren war immer ein wichtiger Teil meines Lebens, und als ich jünger war, war es auch eine Art Zufluchtsort. Ich empfand die Schule wirklich schwer, deshalb war es für mich eine Belohnung, biken zu gehen, richtig schnell zu sein und Erfolge zu haben. Endlich das Gefühl zu erleben, dass die Mühen, die ich in etwas reinsteckte, sich auch ausgezahlt haben. Es war mein Ding. Etwas außerhalb der Schule, das mir ein gutes Gefühl gab.“

„Es ist toll, wenn ich heute mit den Schülern rede. Als würde ich mit meinem zwölfjährigen Ich sprechen, als würde ich der kleinen Katy das sagen, was ihr mal jemand hätte sagen sollen. Ihr erklären, dass es OK ist, wenn es mal schief geht. Das System in der Schule ist doch ganz einfach: Entweder du machst es richtig oder du machst es falsch, und wenn du es falsch machst, hast du auf ganzer Linie versagt. Ich habe für mich irgendwann gelernt, dass es super ist, wenn man etwas gut macht – man lernt und entwickelt sich weiter. Aber wenn man es falsch anpackt oder nicht perfekt macht, ist es auch OK und nicht das Ende der Welt. Es ist eine Erfahrung, die einen weiterbringen kann. Man hat immer die Wahl, sich weiterzuentwickeln, wenn man akzeptiert, dass das Scheitern ein Teil des Lebens ist. Dann gibt es genügend Selbstvertrauen, um aufregende Dinge zu tun. Mir hat Radfahren geholfen, einen anderen Blick auf das ganze Leben zu erhalten.“

Dieser Perspektivwechsel brachte sie dazu, bei der Junioren-XC-Weltmeisterschaft und Junioren-XC-Europameisterschaft zu starten. Und zwei britische Cross Country-Titel einzufahren, zusätzlich zu zwei Silbermedaillen, jeweils eine bei den Schottischen Road- und Downhill-Meisterschaften. Trotz dieser frühen Erfolge sollte sie ihr Herz aber in erster Linie an das professionelle Enduro-Racing verlieren. Dass Radfahren für Katy weit mehr bedeutet als nur Wettkampf, liegt auf der Hand. „Radfahren kann einem enorm viel geben, wenn man Energie tanken und Erfahrungshorizonte erweitern will. Einfach aus dem Haus gehen, Raum finden, das hat etwas unglaublich Positives. Mountainbiken bringt einen voran, denn man erfährt viele Situationen, in denen man Angst hat und zunächst Hürden sieht – schwierige Situationen, die man so im Alltag nicht oft findet. Manchmal stößt man auf eine anspruchsvolle Stelle und bekommt Selbstzweifel, schließlich macht man es einfach oder tastet sich heran und macht so mehr, als man sich vorher zugetraut hat. Dieses Erfolgsgefühl ist unbeschreiblich. Das hat definitiv enorme Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.“

“Eines der besten Dinge, wenn man aus Schottland stammt: Das Wetter ist ein Albtraum. Da trennen sich ganz klar die Leute, die etwas machen wollen von denen, die es wirklich machen. Man muss Opfer bringen, die Zähne zusammenbeißen und einfach durch (das Wetter), wenn man will, dass etwas dabei herauskommt. Ich glaube, dass diese zusätzliche Überwindung und Anstrengung viel Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit hervorbringen. Und das sind genau die Dinge, auf die es ankommt, wenn man es mal auf das Top-
Niveau geschafft hat und dort performen will.”

Katy rangiert nun ganz oben unter den Besten im Rennzirkus. Jeder, der mal bei einem EWS-Rennen am Absperrband gestanden hat, weiß, dass diese Serie irgendwo zwischen Trailfahren und Downhill angesiedelt ist und dem Extremen manchmal gefährlich nahekommt. Manche Rennen der Serie im Jahr 2018 haben Fahrerinnen und Fahrer sehr weit aus der Komfortzone herausgetrieben. Es war Katys erfolgreichstes Jahr bisher, doch sie berichtet von ihren Erfahrungen an der Spitze des Starterfelds: „Dieses Jahr war es anders. Mit der Entwicklung der EWS haben wir die Maßstäbe verschoben, wie lang ein Rennen sein kann, wie körperlich anstrengend, wie viel Uphill. Immer ist man danach in sich gegangen und hat versucht, das Optimum zu finden. Dieses Jahr schien es darum zu gehen, wie technisch die Strecke sein kann. Klar, es gibt in jedem Rennen diese eine Stelle, bei der man ein mulmiges Gefühl hat, eine fiese Kurve, oder ein Drop. Doch dieses Jahr habe ich zum ersten Mal oben am Start einer Stage wirkliche Furcht verspürt, eine ganz reale Angst. Zweifel und Fragen kamen auf: Wie komme ich da bloß runter? In solchen Situationen hat man keine Wahl, man muss einfach den Mut und die Entschlossenheit aufbringen, diese Strecke zu fahren.“

„Was dabei wirklich hilft, ist die Kameradschaft unter den weiblichen Teilnehmern. Obwohl die meisten von uns unter enormem Druck stehen, passen wir aufeinander auf, sind da, um einander mitzuziehen. Wir alle lieben unseren Sport, und wir wollen, dass mehr Frauen mitmachen. Je mehr wir uns gegenseitig unterstützen, desto besser wird der Sport. Wir sind eine Crew, und das gibt es nicht bei vielen Sportarten. Man fährt nicht wirklich gegeneinander, man fährt gegen die Uhr. Du gegen die Uhr, nicht du gegen die anderen. Es geht nicht um einen aggressiven Konkurrenzkampf, sondern um den sportlich-leidenschaftlichen Aspekt: Je mehr du dich anstrengst und dein Bestes gibst, desto mehr gebe ich auch mein Bestes und dann sehen wir ja, wer am schnellsten ist.“

Die Wenigsten von uns können sich das Gefühl vorstellen, am Start einer EWS-Stage zu stehen und auf einen Trail voller fieser Kurven und loser Brocken zu blicken. Der Moment, in dem man weiß, dass es um jede Sekunde geht und dass ein einziger Fehler den schmalen Grat ausmacht zwischen einem Platz auf dem Treppchen und der Vergessenheit. „Letztes Jahr in Finale Ligure hatte ich zu Beginn des zweiten Tages einen Vorsprung von 45 Sekunden, doch irgendwie verlor ich diesen komplett, und schon waren wir bei der letzten Stage und Anita Gehrig war drei Sekunden hinter mir auf dem dritten Platz. Das ist schon ein komisches Gefühl, du stehst an der Startlinie und kannst nicht mehr tun, als dein Bestes zu geben. Alles, wonach ich strebe, ist unten anzukommen und zu wissen, dass ich alles gegeben habe. Ich fuhr die Strecke so schnell wie es ging, und es machte mir tatsächlich mega Spaß. Am Ende hatte ich Anita geschlagen, wenn auch nur um 0.05 Sekunden. 0.05! Ich konnte es nicht glauben. Ich war unglaublich dankbar, dass ich an diesem Tag meine „Zone“ gefunden hatte.“

Auch bei der EWS-Saison 2019 wird Katy wieder darum kämpfen, mit den Schnellsten der Welt auf dem Podium zu stehen. Zuhause im Tweed Valley werden die Bike-verrückten Einwohner vor den Live-Übertragungen festhängen und ihrer Heldin zujubeln. Jede Kurve wird zählen, jede Millisekunde kostbar sein. Doch wenn der Champagner verspritzt ist und der EWS-Zirkus in seinen Winterschlaf geht, wird Katy wieder auf ihren Hometrails im Tal unterwegs sein, und zwar mit ihrem größten Vorbild: „Mein Vater ist immer großartig, bei allem, was ich gemacht habe. Er hat mich immer unterstützt, meinen Traum immer am Leben gehalten. Es ist toll, mit ihm hier im Valley zu fahren, hier haben wir angefangen. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, wieder mit ihm unterwegs zu sein, wie früher, als es noch kein Job war, sondern nur um uns ging.“

Katy Winton ist Markenbotschafterin für ENDURA Clothing. Dieser Artikel ist gemeinsam mit ENDURA als Teil der Serie “Home-turf Heroes” entstanden.

Mehr Infos unter endurasport.com


Dieser Artikel ist aus ENDURO Ausgabe #037

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