Noch bevor ich Vero sehe, höre ich die durch den Dreck schneidenden Reifen. Plötzlich erscheint sie in meinem Blickfeld, scrubbt über den Step-up und landet im nächsten Anlieger, bevor sie mühelos über das sechs Meter lange Roadgap vor mir segelt. Das ansteckende Grinsen, das ich unter ihrem Fullface-Helm ausmachen kann, sagt alles: Das hier ist es, wofür Veronique Sandler lebt!

Vero Sandler sending it at Revolution Bike Park

Wir befinden uns inmitten grüner Hügel im Herzen von Wales, im Revolution Bike Park (liebevoll „Revs“ genannt), einem der absoluten Hotspots in Großbritannien. Ich stehe zwischen sich auftürmenden Skulpturen, die mich an Grabsteine erinnern. Doch hier handelt es sich nicht um Monumente zum Gedenken an die Toten, sondern um eine bemerkenswerte Ansammlung aus in Handarbeit perfekt geformten Absprüngen, Landungen und riesigen Anliegern. „Ziemlich nette Line, oder?“, fragt Vero, als sie für den nächsten Run wieder hinauf schiebt. Die Line hier im Revs Bikepark ist wirklich etwas Besonderes. Gebaut wurde sie für Veros neuestes Filmprojekt VISION, das ihre Reise zu unterschiedlichen Bike-Destinationen in Europa dokumentiert und mit dem Bau ihrer Traum-Line endet ‒ genau der, die sich hier vor unseren Augen durch den walisischen Wald schlängelt.

Wir wollten eine Line bauen, die die Leute auch dann noch flasht, wenn der Film längst im Kasten ist!

Doch wie kam Vero da hin, wo sie jetzt ist? Was ist die Geschichte hinter einer der spannendsten und progressivsten Fahrerinnen der Mountainbike-Welt?

Veronique Sandler, kurz Vero genannt, wurde in Auckland, Neuseeland geboren. In ihrer frühen Kindheit verbrachte sie viel Zeit im Sattel, aber nicht auf dem Bike, sondern auf dem Rücken von Pferden. Als sie mit 15 Jahren in den Bike-Hotspot Nelson zog, wurde ihre Leidenschaft fürs Mountainbiken entfacht. „Ich verdanke es meinem jüngeren Bruder Leo, dass ich mit dem Biken begann. Und der örtliche MTB-Club sorgte schnell dafür, dass sich an diesem Sport hängenblieb“, erinnert sich Vero. Nach kurzer Zeit begann sie an regionalen DH-Rennen teilzunehmen, und schon bei ihrem ersten Rennen erreichte sie einen Platz auf dem Podium. Der Grundstein war gelegt.

Ihre weiteren Jahre als Teenager widmete Vero ihrem Traum: Sie wollte DH-World Cups fahren und es hier nach ganz oben schaffen. „Rennen fahren war das einzige, das ich wirklich wollte.“ Nachdem sie später dann vom Neuseeländischen Verband für die Junior DH-Weltmeisterschaft in Champery ausgewählt worden war, brach sie ihr Studium ab und schloss sich dem Weltcup-Zirkus an. Drei Jahre lang startete sie im Sommer bei Rennen überall auf der Welt, und kehrte im Winter nach Neuseeland zurück, um Geld zu verdienen. Sie erreichte konstant Positionen unter den Top 10 oder Top 15, doch leider reichte das nicht, um den ganz großen Traum zu verwirklichen.

Bei den Frauen musst du unter den Top 5 sein, sonst interessiert es keinen.

Nach der Rennsaison 2016 konnte sich Vero den Flug zurück nach Neuseeland nicht leisten und entschied sich, den Winter zum Arbeiten in Wales zu bleiben. Das war der Beginn eines neuen Kapitels. „Ich wollte mir Zeit nehmen, zu chillen, und ich hatte nicht die Absicht, danach wieder ins Weltcup-Racing zurückzukehren, erzählt sie. In diesem ersten Winter in Großbritannien lernten Vero und ihr Bruder die 50to01-Crew kennen, die sich mit ihrer entspannten Art und ihren relaxt produzierten Bike-Clips voller Tricks und jeder Menge Spaß gerade einen Namen machten. Vero begann selbst zu filmen ‒ ihren Bruder und ihren Freund Max. Doch schon nach kurzer Zeit landete auch sie vor der Kamera. „Ich erstellte ein paar Videos von meinem Bruder und von Max, und es machte so viel Spaß, dass ich dachte, vielleicht sollte ich auch eines von mir machen.“

Veros Clips verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Ihr Style und ihre Einstellung, sowohl auf dem Bike als auch im Leben, ließen ihre Follower-Zahlen in die Höhe schießen, und sie bekam Aufmerksamkeit von Fans und von Marken gleichermaßen. Doch trotz ihres stetig wachsenden Bekanntheitsgrads war eine Sache für Vero von Anfang an klar: Dies war nicht der neue Karriereweg, den sie verbissen gehen wollte, sondern eher ein willkommener Nebeneffekt für das, wofür ihr Herz schlägt.

Ich dachte nie ‘Ich nehme mir jetzt vor, das zu machen’, sondern eher ‘Das macht Spaß und ich mache es jetzt mal’, und dann likten immer mehr Leute meine Videos, was ich sehr schön fand.

Nachdem sie noch drei Jahre zuvor im Worldcup-Racing alles gegeben und damit keine Sponsoren erreicht hatte, war das plötzliche Interesse von Seiten der Marken am Anfang fast ein Schock.

Als Racerin hatte ich jedes Jahr alles versucht, um Sponsoren zu finden, und keiner war bereit, mich zu unterstützen. Und dann, als ich nicht mehr versuchte, irgendwas Bestimmtes zu erreichen, kamen die Leute plötzlich auf mich zu. Das ergab für mich keinen Sinn!

Das Konzept eines „Media-Athlet” oder „free racer“ gibt es zwar nun schon seit ein paar Jahren, doch diese Nische ist eindeutig männlich dominiert. Vero hofft, dass ihr Beispiel Mädchen und Frauen rund um den Globus zeigt, dass Racing nicht alles ist und dass es andere Möglichkeiten gibt, den großen Traum zu verwirklichen: Mountainbiken und davon leben.

„Ich hoffe, dass es anderen Mädels vor Augen führt, dass man nicht racen muss, um als Fahrerin Erfolg zu haben. Ich finde Racing großartig, auch wenn ich mental wohl nicht der richtige Typ dafür bin. Aber ich habe den Eindruck, dass es so viele unfassbar gute Fahrerinnen da draußen gibt, die bei den Rennen trotzdem keinen Erfolg haben. Ich möchte keinesfalls Leute vom Racen abhalten, sondern nur Mut machen: Wenn du im Racing nicht gut bist oder keinen Spaß daran hast, dann musst du es nicht weiter versuchen. Man kann sich auch auf andere Arten in der Bike-Branche einen Namen machen.“

Obwohl die Zahl ihrer Instagram-Follower mittlerweile fast im sechsstelligen Bereich liegt, ist es Vero gelungen, ihre fröhliche Lässigkeit beizubehalten. Social Media kann für Sportler schnell zur Last werden, wenn sie unter dem Druck stehen, Content liefern zu müssen, um sichtbar zu bleiben. Aber Vero erzählt, dass es ihr leicht fällt, interessante Inhalte zu generieren, einfach weil ihr das Ganze so viel Spaß macht. Dadurch, dass sie keinen Stress oder Druck empfindet, genießt sie nach wie vor jede Ausfahrt, und so kann sie auch als Vollzeitsportlerin noch „zum Spaß“ fahren.

„Ich habe das Gefühl, dass ich den Teil des Ganzen ziemlich gut raus habe, denn ich lasse mich durch Instagram nicht stressen. Ich geh’ einfach raus und fahre, wo und wie ich Lust habe, auch wenn ich weiß, dass es nichts so Besonderes und vielleicht nicht Instagram-tauglich ist … . Wenn ich dann auf was stoße, was schön aussieht, suche ich mir jemanden, der mich filmt. Aber ich geh’ nie raus und denke, ich muss jetzt unbedingt Clips produzieren, weil ich ein paar Tage nichts gepostet habe.“

Als ich mich auf den langen Weg nach Hause mache, denke ich über meinen kurzen, aber erkenntnisreichen Besuch nach. Nichts an Veronique Sandler ist „fake“ oder aufgesetzt. Trotz ihres unglaublichen fahrtechnischen Könnens und ihrer stetig größer werdenden Fangemeinde macht sie das alles, weil es ihr Spaß macht. Ihr quirliges Naturell und ihre Begeisterung sind ansteckend und einfach echt. In einer Welt, in der Social Media nicht selten das Ziel hat, einen idealisierten Lifestyle vorzutäuschen, hat Veroniques Authentizität umso mehr Strahlkraft. Sie lebt ihren Traum: Radfahren, Spaß haben – und ist dabei 100% real!

Auf ihrer Instagram-Seite könnt Ihr euch über Veros Abenteuer auf dem Laufenden halten


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