Was waren die großen Innovationen der letzten Jahre? Was sind die zentralen Trends und Branchen-Entwicklungen der nächsten Jahre? Und was ist der neue Zeitgeist? Im Rahmen des Design & Innovation Award haben wir die wichtigsten Insider-Infos zusammengetragen.
Was sind schon 5 Jahre? Nun, wenn wir uns durch unsere digitalen Archive des Design & Innovation Award wühlen, können wir mit Sicherheit sagen: Seit seinen Anfängen 2013 wurde ein neues Zeitalter eingeläutet!
1. Das wahre Potenzial
Die Innovationskraft der Bikeindustrie ist beeindruckend und hat uns innerhalb kürzester Zeit auf einen technologischen Stand katapultiert, den sich vor wenigen Jahren kaum einer erträumt hätte. Aber das ist der Lauf der Dinge: Auch Großes hat immer einen kleinen Anfang. Wie viel Kraft in einem solchen kleinen Anfang stecken kann, darauf weist das Wort „Potenzial“ hin. Es leitet sich vom lateinischen „potentia“ ab und bedeutet Stärke bzw. Macht.
Die Stärke des Design & Innovation Award ist, Potenziale frühzeitig zu erkennen, Trends zu kommunizieren und nachhaltige Entwicklungen zu fördern. Dazu gehört auch, Industrietrends zu beleuchten und auf Gefahren und Potenziale hinzuweisen. Das sehen wir als wichtigen Teil unserer Verantwortung an, insbesondere in Zeiten, in denen das technologische Wettrüsten zu einem Status quo geführt hat, der aktive Maßnahmen erfordert: Nie war das Produktangebot so verwirrend vielfältig, nie waren Standards so schnelllebig und ja, nie war die Verunsicherung so groß. Doch gerade wenn man sich zu stark in kleinen Detailentwicklungen verliert, ist es wichtig, einen Schritt zurückzutreten und das große Ganze zu betrachten.
Wer das große Ganze im Blick hat, wird verstehen, warum E-Mountainbikes den regulären Mountainbikes den Rang ablaufen werden, warum der Gran-FondoFahrer in Zukunft wichtiger werden wird als der Profi-Rennradfahrer und warum der Mountainbike-Markt in den nächsten Jahren stagnieren wird.
Doch bevor wir über die Zukunft sprechen, sollten wir noch einmal die Meilensteine der letzten Jahre nachvollziehen.
2. Smart Simplicity
Was für die Tech-Geeks ein Segen ist, ist für Menschen mit normalem Technik-Interesse ein Fluch: Komplexität, – egal ob bei Schaltungen, Fahrwerks- oder Geometrieeinstellungen. Die hohe Kunst, ein gutes Produkt zu erschaffen, liegt nicht darin, so viele Funktionen wie möglich hineinzupacken, sondern darin, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Wer denkt, Bike-Innovationen gehen hauptsächlich von den Bike-Herstellern aus, der liegt falsch. Oft sind es Komponenten, die neue Bike-Designs erst ermöglichen oder Probleme lösen.
3. Geometrie-Evolution
Was früher undenkbar war, ist heute der Standard: 29er bei Mountainbikes. Ohne mutige und clevere Ingenieure, die die Grenzen des technisch Möglichen pushen, würde es heute keine so schnellen, vielseitigen und potenten Bikes geben. Die Geometrie hat mehr Einfluss auf die Fahrperformance als jeder Zentimeter Federweg.
4. Elektrifizierung
Während E-Mobilität im Automobilbereich noch in den Kinderschuhen steckt, sind E-Bikes in Zentraleuropa nicht nur der am stärksten wachsende, sondern auch der wichtigste Betriebszweig der meisten Hersteller. Was im Bereich der urbanen Mobilität begann, setzt sich nun im Performance-Segment durch. Auch, dass die Elektrifizierung im Rennradbereich (in abgewandelter Form) kommt, ist absehbar. E-Mountainbikes sind der erste Trend, der nicht von der Bikeindustrie, sondern von den Konsumenten ausging. Der erste Trend, der sich zielgruppentechnisch von „alt“ nach „jung“ entwickelt hat. Und der erste Trend, der das „Mountainbike-Erlebnis“ massentauglich gemacht hat und der ein unglaubliches Potenzial erschließen kann. Ehre gebührt deshalb dem ersten ePerformance-Pionier:
5. Software vs. Hardware
Auch wenn es noch viele klassisch analoge Bikes gibt und weiterhin geben wird, ist der Einzug der Digitalisierung in der Bikeindustrie unübersehbar. Von der Shimano Di2-Schaltung über GPS-Systeme bis hin zu Wireless-Teleskopsattelstützen – der ursprünglich rein mechanisch entwickelnden Industrie steht eine große Veränderung bevor: Die Entwicklerteams der Hersteller werden – insbesondere im E-Mountainbike-Sektor – genauso aus Software-Ingenieuren wie aus traditionellen Ingenieuren und Designern bestehen. Wie auf dem iPhone oder Android ist es die Software und nicht die Hardware, die den Unterschied zwischen den Produkten ausmachen wird.
6. Das große Aber
Pure Performance war gestern, heute zählt die Mischung: Training, ABER mit Spaß. Rennen, ABER mit Spaß.
7. Bike-Kategorien sind Geschichte!
Aufgrund der Innovationen und technischen Fortschritte der letzten Jahre verschwimmen – pardon – verschwinden die Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien. Bikes werden vielseitiger. Die Spezialisten verschwinden in Nischen, die Masse der Biker will Generalisten mit breitem Einsatzbereich.
6. Die neue Dienstleistungsindustrie
Viele Produkte sind heute von ihrer Funktionalität her austauschbar. Was den großen Unterschied macht, sind Design, Image und vor allem eines: Service. So verschiebt sich die technologisch orientierte Innovationsleistung auf eine serviceorientierte Innovationsleistung.
Die Professionalisierung des Fachhandels hat mit der rasanten Entwicklung der Bikes in den letzten Jahren selten mithalten können. Direktvertrieb, unpersönliche Bikeshop-Ketten oder Online-Discounter sind ein Resultat der sich verändernden Ansprüche von Industrie und Verbrauchern und so wächst die Schere zwischen teurem Premium und „Geiz-ist-geil“ Mentalität – beides Extreme, die der durchschnittliche Bikeshop ohne schlaue Strategie immer schwerer erfüllen kann. Mit zusätzlichen Angeboten außerhalb des Core-Business oder hochprofessionellen Schulungen haben Direktvertrieb, Bikeshop-Ketten und Online-Discounter ihre Servicequalität in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Das Gleiche gilt für Bike- und Bekleidungshersteller selbst, die neben Kunden-Events teilweise auch Reiseangebote in ihr Portfolio aufgenommen haben und damit ihre Marke erlebbarer machen wollen.
„Der Design & Innovation Award ist eine moderne und progressive Institution, die Potenziale früh erkennt. Und deshalb liegt es in unserer DNA, uns selbst immer wieder zu hinterfragen, Reformen voranzutreiben und uns weiterzuentwickeln.“
What’s next?
Ganz ehrlich: Das fragen wir uns jedes Jahr. Aber wer zuhört, der erkennt, wie sich der Sport verändert. Und wer diese Offenheit hat, wer Ängste, Sorgen und Herausforderungen der unterschiedlichsten Zielgruppen ernst nimmt und versteht, der kann eigentlich gar nichts falsch machen. Und dazu gehört auch, sein Handeln immer wieder selbst zu hinterfragen und, wenn nötig, Reformen voranzutreiben und sich weiterzuentwickeln. Und genau das haben wir gemacht.
Weltmeister, Olympioniken, Visionäre, Designer, Ingenieure – die Besten der Besten haben beim Design & Innovation Award mitgewirkt und ihren Teil zu seiner Entwicklung beigetragen. Dennoch haben wir die Award-Jury für dieses Jahr abgeschafft. Nach den komplexen, hochintellektuellen und eher philosophischen Diskussionsrunden des letzten Jahres haben wir für dieses Jahr wichtige Maßnahmen ergriffen, um uns mit greifbareren und unmittelbareren Herausforderungen und Themen zu befassen. Wie sieht die Realität auf den Trails und Straßen aus? Welche Produkte und Innovationen braucht es tatsächlich? Denn gutes Design und Innovation dürfen nicht nur in einer perfekten Umgebung unter Laborbedingungen und in geschulten Profihänden funktionieren.
Was sind die besten Produkte der Zukunft?
Nach Jahren des „steifer/leichter/schneller“ haben wir nicht nur ein extrem hohes Produktniveau erreicht, auf dem es kaum mehr wirklich schlechte Produkte gibt, sondern sind auch an einem Punkt angelangt, an dem wir Entwicklungsschwerpunkte anders setzen müssen, um breitere Zielgruppen anzusprechen. Denn die Kunst liegt nicht darin, eine superteure Innovation zu schaffen, sondern darin, ein erschwingliches Produkt zu entwickeln, das eine wesentliche Verbesserung des Status quo bewirkt. Stichwort Realismus: Design und Innovation sollten nicht etwas für einen elitären Kreis sein, sondern etwas für Normalsterbliche und -verdiener. Deshalb hängt die Definition eines perfekten Produktes nicht nur vom Einsatzbereich, sondern auch von der Zielgruppe ab. Die kaufende Zielgruppe besteht nicht aus Superprofis, sondern aus uns Normalsterblichen: Nicht der Downhill-Gott, sondern der Trailbiker, nicht der Tour-de-France-Champ, sondern der Gran-Fondo-Fahrer wird immer mehr ins Ziel der Produktentwicklung rücken.
Wie viel Innovation brauchen wir tatsächlich?
Immer geht es nur um „mehr“ Innovationen – dabei zählt doch aber, dass es die richtigen sind. Weniger technologische Innovationen würden dem Markt guttun, vor allem weil das rasante technologische Wettrüsten langfristig nichts bringt: Technologische Innovation ist bei vielen Herstellern zu einem inflationären Gut geworden. Wer den Unterschied zur Konkurrenz nur durch scheinbare technische Innovationen und neue technische „Standards“ zu schaffen versucht, erreicht meist das Gegenteil: Verwirrung und Verunsicherung im Handel und bei den Kunden sowie hohe Kosten für sich selbst. Im traditionellen Mountainbike-Segment ist genau das passiert und im E-Mountainbike-Bereich droht eine ähnliche Gefahr – es sei denn, die Industrie findet sich am runden Tisch ein und plant klug. Schließlich spielen hier Politik, Gesetzgebung und Standards eine fundamentale Rolle, wenn es um die nachhaltige Entwicklung dieses Segments geht, nicht nur hinsichtlich des Produktes, sondern auch im Hinblick auf die Tourismus-Infrastruktur und auf vollkommen neue Anwendungsgebiete.
E-Mountainbikes – Die radikale Demokratisierung?
Schaut man sich das rasant wachsende E-Mountainbike-Segment genauer an, wird deutlich: Erlebniswelten werden in Zukunft eine wichtige Funktion einnehmen. Unterschiedlichste Zielgruppen mit signifikanten Differenzen, was Technikverständnis und Fahrkönnen angeht, interessieren sich für ein und dasselbe Produkt – und können gemeinsam fahren! Wer hätte vor Jahren gedacht, dass ein Herzpatient im Jahr genug Höhenmeter sammeln würde, um zehn Mal den Mount Everest zu befahren? Oder dass Millennials die PlayStation für E-Mountainbikes links liegen lassen? Oder dass man einfach mehr Trails in weniger Zeit fahren kann? Da sich Radfahren in all seinen Facetten zu einem Lifestyle entwickelt und neue Zielgruppen erreicht, ist es wichtig, produkt- wie kommunikationstechnisch für die extrem unterschiedlichen Anforderungsprofile eine simple Lösung zu haben: Eine Sprache, die jeder spricht und versteht – die Automobilindustrie macht es vor!
Rennrad – Die Entfremdung
Während sich das Rennrad technologisch vom Profisport entfremdet, kommt eine neue Generation an Rennrädern, die – wir kennen es von Enduro – nicht unbedingt ein Rennformat benötigt, sondern vielmehr ein Resultat der sich ändernden Gesellschaft ist. Entschleunigung, Naturerlebnis und das hohe Sicherheitsbedürfnis der Rennradgemeinde wird Gravel groß machen. Doch damit nicht genug. Auch wer auf der Straße bleibt, möchte neue Technik wie Discs, Komfort oder breitere Reifen – und damit ist der Gran-Fondo-Fahrer dem Profi voraus.
Mountainbike – Die Ressourcenverschiebung
2017 wird der Mountainbike-Markt größtenteils stagnieren. Einerseits weil viele Hersteller ihre Entwicklungsressourcen in das rasant wachsende E-MountainbikeSegment investieren, andererseits weil der traditionelle Markt bereits sehr hoch entwickelt und diversifiziert ist und die relativ homogene Zielgruppe weitestgehend erschlossen ist. Und so sieht man bereits, wie mancher Global Player sein Produktportfolio drastisch kürzt und sich auf die wichtigsten Modelle konzentriert. Andere erfinden sich neu, füllen ihre Marke mit klar definierten Werten oder beschreiten neue Vertriebsmodelle.
Good Times, Hard Times – das ist der Lauf der Dinge und macht die Zukunft so spannend. Nur eines sollte uns dabei bewusst sein: Den Grundstein legen wir im Jetzt und Heute – große Dinge haben oftmals einen kleinen Anfang!
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Text: Robin Schmitt Fotos: Christoph Bayer, Julian Mittelstaedt