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Wenn es darum geht, uns ein neues Bike zuzulegen, ertrinken wir förmlich in einem See aus Zahlen – 160 oder 140, 29 oder 27,5, 148 oder 142, 34 oder 36. Es wird immer diesen einen Kerl geben, der euch auf dem Trail begegnet und erklärt: „140 mm? Das wird nix, hier brauchst du 150 mm!“ Selbst Magazine schütten nur noch weiter Zahlen dazu: „dieses Bike bekommt starke 9 von 10 Punkten!“ Aber wartet doch mal! Was soll das alles? Seit wann sind die Bikes, die wir lieben, diese mit Charakter belebten, Adrenalin produzierenden Spielzeuge abhängig von irgendwelchen Winkeln geworden, seit wann sind wir so fixiert auf Zahlen, dass wir vergessen haben, worauf es bei einem Bike wirklich ankommt?

Product Picture Road DI.A 2016 (2 von 31)

Um einen anderen Blick darauf zu bekommen: habt ihr schon ein mal eine Werbung von Mercedes gesehen, in der sie ihre „neue X-Klasse mit 2,4 Litern Hubraum, 300 PS, 7-Gang-Getriebe und Zwanzig-Zöllern“ anpreisen? Eben. Die Auto-Industrie ist zu gewieft dafür, sie versucht viel eher, potenzielle Kunden für das Produkt zu begeistern und ihnen zu zeigen, wie viel Spaß sie damit haben könnten. Sie richten die Werbung auf die Zielgruppe aus und kreieren einen idealisierten Lifestyle um die neue Maschine. Jedes Auto wird uns von A nach B bringen, aber wir wollen lieber etwas Gutes. Wir wissen nicht, was unter der Motorhaube schlummert oder wie viele Liter in den Tank passen, es interessiert uns auch nicht. Was uns interessiert ist, wie sich die Karre fährt. Kostet der Unterhalt ein Vermögen und lohnt sich der Spaß? Bleibt die Frage, warum wir uns bei Bikes so auf Zahlen versteifen.

Product Picture Trailbike DI.A 2016 (2 von 16)

Die Vergleiche zur Auto-Industrie sind vielleicht nicht ganz passend, da Bikes und die Industrie um sie etwas sehr spezielles sind. Es gibt wohl keinen anderen Bereich, in dem sich die Kunden so gut mit der Materie auskennen. Fragt man jemanden, wie viel Watt sein Wasserkocher bringt, erntet man vermutlich nur blindes Starren; fragt man dagegen einen Biker nach dem Setup seiner Forke, kann man sich mit Sicherheit auf einen stundenlangen Monolog über Zug- und Druckstufe einstellen. Wir sind ein Haufen Freaks, die jedes Teil unserer Bikes untersuchen, bewerten und vergleichen, beim Kauf aber plötzlich hilflos werden. Wie oft habt ihr ein Bike von der Kaufliste gestrichen, weil hier ein paar Millimeter oder da ein paar Grad gefehlt haben?

Die Hauptschuld liegt bei uns, den Medien. Wir kategorisieren Bikes, um die Tests logischer (und vielleicht auch einfacher) zu machen, vergleichen 160 mit 160 und 130 mit 130, auch wenn sich die Bikes selten auf der Strecke begegnen würden. Oft sieht man als Fazit eines Test, dass ein bestimmtes Bike „das Beste“ ist. Aber für wen? Für euch oder für den Pro-Rider, der für Fotos über ganze Schluchten fliegt? Manche gehen sogar soweit, die Bikes auf der Skala „1 bis 10“ einzuordnen, was sie auf die vereinfachtesten Kriterien reduziert. Lasst uns also einen Gedanken in die Welt feuern: man wird heute kaum noch auf richtig schlechte Bikes treffen. Die meisten arbeiten hervorragend in dem angedachten Einsatzbereich, viel schwieriger ist die Einordnung, was genau dieser Einsatzbereich ist. Ein Bike, das EWS-Rennen gewinnen soll, unterscheidet sich essenziell von einem, das für spaßige Flowtrails gedacht ist und trotzdem muss keins der beiden Bikes (außerhalb des vorgenannten Einsatzbereiches) schlechter als das andere sein. Das fahrerische Können ist ebenfalls entscheidend. Ein Racebike muss sehr aktiv gefahren werden, um zu funktionieren, und wirkt bei entspannter Fahrweise vielleicht steif und leblos. Unsere Bike sollten uns bei jeder Fahrt aufs Neue begeistern!

Produkt Bilder DI.A 2016 Accessiors (1 von 50)

Inzwischen gibt es viele Bikes, die alte Sparten infrage stellen, aggressive Short-Travel- oder entspannte Big-Bikes, die ihre jeweilige Sparte sprengen und trotzdem definieren wir sie allein anhand ihrer Spezifikationen. Der Design & Innovation Award 2016 zeigte deutlich, dass ein Bike weit mehr ausmacht als die Summe seiner Teile. Der Federweg sollte nicht mehr ausschlaggebend für die Einordnung eines Bikes sein. Beim nächsten Kauf sollte es für euch nicht darum gehen, das „Neuste und Beste Bike“ zu bekommen, das World Cups gewinnt, sondern das, was am besten zu euch passt.

Produkt Bilder DI.A 2016 Enduro Bikes (9 von 12)

Natürlich finden wir es alle cool, ein richtiges Race-Bike zu besitzen, schließlich hängten wir uns schon als Kinder Poster von Lamborghinis und Ferraris in unsere Zimmer, aber mit einem solchen Supersportler durch den Berufsverkehr zum Job zu pendeln wäre wahrscheinlich einfach nur ätzend! Das gleiche gilt für die Bike-Industrie: die Hersteller sind besessen davon, ein schnelles Bike auf den Markt zu bringen, während für die meisten Kunden eigentlich der Spaß am Fahren zählt.

Wir sollten also dafür sorgen, dass sich herumspricht, dass Non-Race-Bikes für den Otto-Normal-Verbraucher ebenfalls cool, spaßig zu fahren und meist deutlich unterhaltsamer sind. Die Nützlichkeit für und die Verbindung mit dem Kunden sollten wichtiger werden als harte Zahlen. Es ist einfach zu sagen: „dieses Bike ist nicht flach genug und fühlt sich auf fiesen Trails unruhig an“, wobei man eigentlich denkt: „Hey, das Bike hat echt Laune gemacht und klettert auch super, ist aber nicht so schnell wie ein reines Race-Bike.“ Ein Leser würde sich dann nämlich vielleicht denken: „Ich springe und spiele gern mit meinem Bike, bin aber kein Racer, das klingt nach meinem Bike!“

Produkt Bilder DI.A 2016 Accessiors (36 von 50)

Es ist an der Zeit, mehr als die Zahlen zu sehen und den Gesamtkontext zu betrachten. Hersteller versuchen mit Aussagen wie: „Wir haben den Sitzwinkel um ein halbes Grad gekürzt, unser Bike ist jetzt 106% besser als alle anderen!“ ein größeres Stück vom Kuchen zu bekommen, obwohl sie eigentlich dafür sorgen sollten, dass der Kuchen größer wird! Die Kommunikation mit dem Durchschnittsfahrer kann für eine bessere Zugänglichkeit und somit zu einer wachsenden Attraktivität des Sportes sorgen. Je mehr Menschen wir zum Mountainbiken bekommen, desto größer wird unsere Lobby und desto mehr Trails werden wir zum Fahren haben. Lösen wir unseren Geist von der obsoleten Fixierung auf Kategorien, steht der Weg für jeden offen, das Bike zu finden, das für ein Dauergrinsen sorgt. „Ich bin keine Nummer“ – genauso wenig wie mein Bike.

Alle Infos zum Design & Innovation Award 2016 gibt es unter design-innovation-award.com

Text: Trevor Worsey Bilder: Christoph Bayer


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