Hausbesuch | Tief im Harz in der Zentrale von Nicolai Bikes
Bereits 48 Stunden vor der ersten Ausfahrt war das ION 16 schon in meinem Besitz und den Großteil dieser Zeit verbrachte ich damit, es einfach nur anzusehen. Jedesmal, wenn ich an dem langen und tiefen Killerbike mit der fiesen Optik vorbeiging, fiel mir ein weiteres Detail ins Auge. Oberflächlich betrachtet mag das ION mit seinem cleanen Look und dem geraden Rohrsatz vielleicht unspektakulär erscheinen, aber wenn man sich die Zeit nimmt und dieses Schmuckstück etwas genauer betrachtet, so zeugt jedes noch so kleine Detail von Sorgfalt, Kreativität, Kunstfertigkeit und perfekter Ingenieurskunst. Wir sprechen hier nicht von irgendwelchem Zierkram, der vielleicht dazu gedacht ist, von irgendwelchen Unzulänglichkeiten abzulenken, sondern wir sprechen von praktischen und wunderschönen ausgearbeiteten Detaillösungen, die sich dem Kenner erst bei genauester Betrachtung erschließen. Und um sie alle zu finden, muss man sich schonmal etwas Zeit nehmen…
Was für das Design des ION 16 gilt lässt sich auch direkt auf den Firmensitz der edlen Rahmenschmiede übertragen. Zugegeben war ich anfangs etwas verwirrt, als mir unserere Redaktion das Ziel meines nächsten Hausbesuchs nahelegte, denn wozu in aller Welt sollte jemand elf Stunden Fahrt auf sich nehmen, nur um zu sehen, wo und wie Nicolai ihre Bikes montiert, verkauft und verschickt. Schnell wurde mir jedoch versichert, dass diese Firma wohl etwas “spezielles” sei, und dort zudem auch mein neues Testbike zur Abholung bereit stünde.
Unser schottischer Fotograf Ross war ebenfalls gerade im Süden unterwegs und so sprangen wir beide in meinen Bus und machten uns auf den Weg in Richtung Norden. Nach einiger Zeit staunten wir nicht schlecht, als der Regen plötzlich in Schnee überging und schon dachten wir, das Navi hätte sich geirrt und hätte uns zurück in die Alpen geschickt, doch schließlich erreichten wir unser Hotel, das sich in einem kleinen Dörfchen am Rande der Harzer Berge befand. Obwohl unsere Gastgeber dort kein Englisch sprachen schafften wir es dennoch unsere gebuchten Zimmer und anschließend sogar eine Gaststätte zu finden, in der man uns ein deftiges aber vorzügliches Abendessen servierte.
Weniger Glück hatten wir dann am nächsten Tag, als wir die größte Mühe hatten, das eigentliche Ziel unserer Reise, nämlich den Sitz der Firma Nicolai zu finden. Wir fuhren durch eine wunderschöne ländlich geprägte Landschaft mit romantischen Dörfern und schmuckvollen Bauernhäusern, und nirgends fanden wir Anzeichen eines Industrie- oder Gewerbegebietes. Schon verdächtigten wir erneut unser Navigationssystem als Ross plötzlich in der Nähe unserer Zieladresse einen Nicolai Aufkleber auf einem parkenden Bus entdeckte. Dieser stand im Innenhof eines bäuerlichen Anwesens und schnell wischten wir alle Zweifel beiseite und beschlossen, dass wir unser Ziel erreicht hätten. Nach dem Aussteigen überkamen uns jedoch erneute Zweifel. Selbst bei abgestelltem Motor deutete nichts auf einen Firmensitz hin. So sehr wir auch unsere Ohren spitzten, wir konnten keinerlei typische Geräusche vernehmen und weit und breit war kein Schild mit dem signifikanten Schriftzug auszumachen. Trotzdem begannen wir damit, an die Türen zu klopfen und so auf uns aufmerksam zu machen.
Tatsächlich schafften wir es doch noch, die Aufmerksamkeit unserer Kontaktperson Moritz zu erregen und kurze Zeit später befanden wir uns mitten in einer beeindruckenden Führung durch die heiligen Hallen. Im Inneren der fast schon antik anmutenden Gebäude war jeder Quadratmeter ausgefüllt mit modernsten Vorrichtungen und Produktionsmaschinen. Der Kontrast zwischen dem romantischen äußeren und der technisch geprägten Atmosphäre im Inneren wurde durch die Betriebsamkeit noch zusätzlich verstärkt, mit der einige Arbeiter an modernen CNC Maschinen Bauteile aus dem Vollen frästen und andere aus vorgefertigten Rohrsätze ganzen Rahmen schweißten. Mit einer Stückzahl von lediglich 1200 Einheiten pro Jahr zählt Nicolai sicher nicht zu den großen Bikeherstellern, aber dennoch war das Firmengelände deutlich kleiner, als wir es uns vorgestellt hatten. Mit der geplanten Renovierung eines angrenzenden Scheunengebäudes versucht man zwar in naher Zukunft genug Platz für einen separaten Showroom zu gewinnen, das Raumproblem wird dadurch langfristig vermutlich nicht gelöst, da im gesamten Dorf einfach nicht mehr Platz zur Verfügung steht.
Aber trotz des ungewöhnlichen Ambientes: Die eigentlichen Stars im Hause Nicolai sind und bleiben die dort produzierten Bikes. Die Detailverliebtheit, mit der man sich hier den Produkten widmet, geht weit über das normale Maß hinaus. Hier werden die Lager fast wie kleine Kostbarkeiten behandelt und jede Schweißnaht gleicht einem kleinen Kunstwerk. Eigens angefertigte Kabelhalter bestätigen eindrucksvoll das in großen Lettern stolz eingeprägte ‘Made in Germany’ auf der Kettenstrebe und wer zu seinem künftigen Bike eine tiefere Beziehung aufbauen will, für den besteht sogar die Möglichkeit, sich seinen Namen ins Sitzrohr gravieren zu lassen. Unglaublich. Plötzlich aber, mitten in der Führung, unterbricht Moritz die Tour und erklärt, dass es nun an der Zeit wäre, sich um die Würste zu kümmern. Unseren Blick werde ich hier beschönigend als fragend bezeichnen, wurde aber von unserem zuvorkommenden Guide schnell richtig gedeutet und schon erklärte er uns, dass Freitag ein besonderer Tag (nämlich Wursttag) sei, und der örtliche Metzger seine Spezialitäten zur Brotzeit frei Haus liefert. Dass diese Würste tatsächlich ausgezeichnet schmeckten, wollen wir an dieser Stelle noch einmal besonders hervorheben und schließlich konnten wir verstehen, warum Moritz dafür sogar seine durchaus interessanten Ausführungen unterbrochen hatte.
Später kamen wir in die Farbkammer wo wir uns einen groben Überblick über die unzähligen Individualisierungsmöglichkeiten verschaffen konnten. Von schlicht bis komplett durchgeknallt wird hier jeder Kundenwunsch ernst genommen und erfüllt, solange es nur dem Auftraggeber gefällt. Auch wenn Nicolai hier dem Besteller absolut freie Hand lässt, die Qualität wird davon nicht beeinflusst. Sie ist absolut vorbildlich. Immer.
Zu guter Letzt erreichten wir die Endfertigung, wo uns eine echte Überraschung erwartete. Die Sorgfalt, mit dir hier gearbeitet wird, ist für einen Bikehersteller äußerst ungewöhnlich und in dieser Form vermutlich auch kein zweites Mal zu finden. DIe Lagersitze am Steuerrohr sowie das Sitzrohr werden akribisch ausgerieben und alle Lagersitze, Auflageflächen sowie die ISCG Aufnahmen peinlich genau plangefräst. Der Ausrichtung von Rahmen zu Hinterbau wird ebenfalls große Bedeutung beigemessen, sodass im fertigen Rad alle Teile perfekt miteinander harmonieren. Das bedeutet nicht dass man bei diesem Arbeitsschritt zimperlich zu Werke geht. Hier wird mitunter äußerst kraftaufwändig aber dennoch stets gefühlvoll gearbeitet. Als wir den Kollegen bei seinem Werk beobachteten, kam mir unweigerlich das Bild eines Chiropraktikers in den Sinn, der sich an einem Supermodel zu schaffen macht. Aber Gott sei Dank weiß hier jeder haargenau, was er tut.
Das malerische Ambiente der Firmengebäude, das hochmoderne Equipment im Inneren und nicht zuletzt das wunderschöne Finish der Bikes wäre jedoch wertlos, wenn sich die hier hergestellten Bikes nicht auch gut fahren ließen. Für mich ein Grund, mein Testbike schnellstmöglich vom Ständer zu nehmen und damit für ein erstes Setup eine Runde um den Hof zu fahren. Die Grundeinstellung der Federelemente war schnell gefunden und das Ion 16 fühlte sich vom ersten Augenblick sehr komfortabel an. Nach den ersten richtigen Ausfahrten werde ich euch hierzu selbstverständlich nicht im Ungewissen lassen. Ich freue mich schon auf die vielen Testfahrten auf diesem außergewöhnlichen Bike eines in jeder Hinsicht ebenso außergewöhnlichen Hersteller.
Text: Evan Phillips Bilder: Ross Bell
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