Ah, sieh an – das Bordell zieht hier so einige an bzw. vielleicht sogar aus. Meine Story beginnt auf einer schmuddeligen Website, nimmt mit einem „Hallo“ eine entscheidende Wendung und bringt mich über Brasilien nach Whistler. Wie es dazu kam und was Troy Lee damit zu tun hat, erfahrt ihr, wenn ihr die Hand aus der Hose nehmt und „Hallo“ sagt oder einfach weiter scrollt.

Winter 2009 in Osnabrück

Ich glaub’, ich stand im Wald, es war schon fast dunkel, kalt und leise rieselte der Schnee. Zwei, drei Buddies ließen sich zu 4–5 schnellen Abfahrten auf unserer „Downhill“-Strecke überreden. Doch direkt am ersten Anstieg kreuzten wir den Trail samt zweier Unbekannter, die stylisch über die kleinen, aber feinen Doubles gen Dorf scrubbten. „Wer war das?“, raunte es damals durch die Crew. Klassiker! Als Biker kennt man jeden Hans und Franz in der Gemeinde und datet wahrscheinlich noch deren Geschwister. Während meine Crew uninteressiert weiter kurbelte, dachte ich: „Wow, smoother Whip inklusive Scrub mit anschließendem Roost in der gefrorenen Anliegerkurve – die Jungs können fahren! Wer sind die?“ Wie von einer fremdem Hand (sehr wahrscheinlich mein Ego) geleitet, drehte ich neugierig um, verließ meine Jungs und begann hastig die Verfolgungsjagd.

Im Ziel eingeholt

Am Ende des Trails traf ich Maarten und Ruben. Beides Holländer, Grenzgänger sozusagen, nicht nur auf dem Trail. Zwei bis drei Mal im Monat kamen die beiden über die Grenze, um die Trails rund um Osnabrück zu erkunden. Der Smalltalk war recht easy, wir kurbelten gemeinsam den Berg hoch, lernten einander kennen. Ruben war dabei der aufgeschlossenere von beiden. Er arbeitete zu der Zeit bei GHOST Bikes als Ingenieur, fuhr Downhill-Rennen, schnitt seine eigenen kleinen MTB-Videos und hüpfte Trial. Wir tauschten Nummern und Handschlag aus. Für den Fall, dass er noch einmal in die Gegend kommt, sollte er sich melden. Gemeldet hatte er sich dann auch – allerdings mit einem Jobangebot.

Zurück zum Bordell

Ich war damals 19 Jahre jung und arbeitete nach der Ausbildung zum Grafikdesigner in einer kleinen Werbeagentur, die ich hier nicht zu hoch loben möchte. Mein primärer Job war dort, Piercings und Tattoos aus dem Intimbereich einiger Sexarbeiterinnen zu entfernen, damit diese im Internet nicht so schnell wiederzuerkennen waren. Des Weiteren hab ich damals einen Vorhang aus Tigerfell gebaut, der sich beim „Betreten“ der Website öffnete, sowie die Gesichter von kleinen und dicken Männern verpixelt, die nackt oder in Bademänteln Sex-Partys geschmissen hatten. Logisch klickt man sich nach so einer Sause, auf der nicht nur die Sektkorken knallten, durch die Galerie der heißen Erinnerungen. Der Job war kurz lustig, doch dann war – wie auch bei den alten Männern – schnell die Luft raus. Rubens Jobangebot von GHOST war somit die letzte Rettung auf dem reißenden Fluss gen Venus Berlin. Von hier aus lief alles ein bisschen wie freihändig fahren. Ich hab hier und da gegengelenkt und ansonsten das Gleichgewicht machen lassen. Mit Sack und Pack zog ich nach Waldsassen, wurde Head of Graphic bei GHOST Bikes – und Ruben und ich Buddies. Mit Fischi, aka Johannes Fischbach, fuhren wir gemeinsam Rennen, Pickup Shuttles und unsere Hoamtrails (bayrisch für lokale Trails).

Fast Forward

In einem illegalen Berliner Club sagte ich, jung und naiv, einmal mehr „Hallo“ zum Ungewissen und folgte der Liebe über die Ukraine nach Asien, um schlussendlich in Brasilien zu landen. Ohne Job, dafür mit vielen Sonnenstunden! In der damaligen ENDURO Ausgabe #10 sah ich dann wieder Ruben. Wieder am scrubben. Mehr als ein Jahr haben er und ich uns bis dahin nicht gesprochen. Ich griff sofort zum Handy – rief ihn an. Er war zu dem Zeitpunkt bei SCOTT in der Schweiz, ich an der Copacabana. Ruben: „Du, ich glaube, meine Buddies bei ENDURO wachsen und können einen weiteren guten Grafiker gebrauchen, soll ich dich connecten?“ Boom! Skype-Call mit Gründer Robin – Done Deal! Handschlag via Bildschirm.

Alle Jahre wieder

An einem sonnigen Nachmittag anno 2019 klingelte dann, dieses Mal in der Nähe von Lissabon, wieder das Skype-Telefon. Ruben! „Ich bau’ mir jetzt mein eigenes Bike, Bock das Universum dafür zu schaffen?“ Gestatten, die Geburtsstunde von RAAW Mountain Bikes. Wer Ruben und mich kennt, weiß, dass man besser das Weite sucht, sollten unsere beiden Atome zusammenkommen. Kernspaltung von Bullshit. Ein Mount Everest an Flachwitzen, eher ein Whateverest.

Wem gönnst du die amerikanische Präsidentschaft?

„Beiden“
(Biden).

Ich glaube nicht, dass die Erde eine Scheibe ist …
eher rund wie ein Pfannkuchen.

Bock auf Whistler?

So ziemlich genau vor einem Jahr klingelte dann wieder das Telefon. Ruben! Mittlerweile ist er mit RAAW Mountain Bikes nach Kanada gezogen und tuckert dort die Trails. Ein neues Bike ist auch auf dem Weg und braucht einen Namen sowie ein Logo. Der derzeit noch geheime Name findet sich am Telefon innerhalb von Sekunden. „Bock es mal zu testen?“, fragte mich Ruben ziemlich überraschend, denn er war ja so etwa 8000 km von Lissabon entfernt. Das Ticket war bereits gebucht! „Komm rüber!“

Started from Osnabrück, now we´re here!

13 Jahre, nachdem ich Ruben im verschneiten Osnabrücker Wald getroffen habe, steh’ ich nun hier mit ihm an der Liftstation in Whistler. A-Line rechts, Crank it up links … wie immer fährt er viel zu schnell voraus. Und ich muss blind folgen bzw. fliegen. Es fühlt sich surreal an. Alles. Diese ganze Story! Wie es dazu kam, wo ich bin und wo ich war, wo wir sind und wo wir einst waren. Wir shutteln uns durch die Trails in Squamish, treffen die coolsten Typen wie Rob Perry, der uns kurzerhand gut aussehen lässt (Danke für die Fotos) und shredden, bis man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen kann.

Und was hat nun Troy Lee damit zu tun?

Kurz vor meiner Traumreise nach Kanada fuhr ich noch einmal eine Runde auf meinem Local Trail in Sintra, in der Nähe von Lissabon. Man trifft hier und da einen Biker, man grüßt sich, kennt sich. Doch dieser eine Biker, auf den ich treffe, kommt nicht von hier. Sein Akzent: Amerikanisch. Der Vibe: Kalifornisch. „Hey, my name is Troy!“… So wie „Troy Lee?“ „Yeah, that’s me!“ Troy war auf der Durchreise und unsere Wege kreuzten sich. Ich zeigte ihm die Trails, er teilte lustige Anekdoten. Als ich von meiner bevorstehenden Reise erzählte, fragte er mich, ob ich noch einen Helm für die A-Line brauche. „Ehm Joa?!“

Am Tag meiner Ankunft in Whistler kam zugleich mit mir ein Paket an. Darin befanden sich nicht nur ein Helm, sondern auch mehrere Outfits sowie Protektoren und eine Nachricht. „A little Care Package! Enjoy Whistler. Troy!“

Manchmal – oder wohl eher meistens – führt ein „Hallo“ nicht direkt zu Freundschaften, Weltreisen, Jobs oder romantischen Beziehungen. Es kann gut sein, dass du viele deiner Begegnungen nie wieder treffen wirst. Aber selbst ein einzelnes Gespräch kann einmalig sein und deine Perspektive verändern, dir eine neue Sichtweise auf Dinge geben. Sie können ein Schlüssel zu einer für dich verschlossenen Tür sein oder das letzte fehlende Stück deines Gedanken-Puzzles.

Was ich sagen will: Da draußen warten Überraschungen und Begegnungen, die euer Leben krass verändern können. Gebt diesen Momenten eine Chance, sucht sie, aber erzwingt sie nicht. Bleibt euch treu, aber öffnet euch gegenüber dem Neuen, dem Fremden – statt euch mit Oberflächlichkeiten auf Distanz zu halten. Geht diesen Winter raus, anstatt auf Schmuddelseiten abzuhängen. Geht Biken, auch wenn es schneit, und sagt bitteschön „Hallo!“ Eine kleine Entscheidung in Sachen Einstellung – schon ist man nur ein kleines Wörtchen entfernt von einem komplett neuen Leben.


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als ENDURO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die Mountainbike-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text: Julian Lemme Fotos: Rob Perry, Christoph Bayer, Julian Lemme

Über den Autor

Julian Lemme

Julian hat schon mit Haien den Pazifik erkundet, der Höhenangst im Himalaja die Hand geschüttelt, ein paar Stunden im ältesten Knast Uruguays gesessen und im brasilianischen Regenwald Weltfrieden gefunden. Als digitaler Nomade hat er die halbe Welt bereist und ganz nebenbei die Layouts für unsere Magazine gemacht. Heute ist er schon fast sesshaft geworden und lebt mit seinem Hund Bonnie im sonnigen Lissabon, um dort zu biken, zu surfen und den entspannten Lebensstil zu genießen. Als Art Director haben wir ihm die geilen Layouts und Styles zu verdanken, die unsere Magazine auszeichnen.