16 Trails, über 15000 Höhenmeter – die Zwillinge Caro und Anita Gehrig stellen im Vinschgau (Südtirol) einen neuen Weltrekord im Trailbiken auf.

Es ist noch nicht sechs Uhr morgens, als die Enduro-Profis Caro und Anita Gehrig von ihrer ersten Abfahrt Richtung Shuttle rollen. Caro atmet durch und freut sich: «Die ersten 1000 sind geschafft. Jetzt nur noch fünfzehnmal so viel und wir sind am Ziel.» Das ist arithmetisch zwar nicht ganz korrekt, zeigt aber, wohin die Reise geht an diesem sonnigen Tag in Vinschgau, Südtirol. 15000 Höhenmeter wollen die beiden Zwillinge an einem Tag auf Trails bergab fahren und damit den inoffiziellen Weltrekord von Thomi Giger und Thomas Frischknecht schlagen. Sie schafften 2013 in Davos und Umgebung 13572 Höhenmeter Abfahrt an einem Tag. Klar, es sind schon grössere Höhendifferenzen zurück gelegt worden, aber vermutlich noch nie, ohne einen Trail zweimal zu fahren.

CARO_GEHRIG_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_044

Zwei 27-jährige Schweizerinnen haben sich also in den Kopf gesetzt die Marke der Bike-Legende und des Bike-Verlegers zu brechen. Und weil letzterer die Trails des norditalienischen Alpentals schätzt, empfiehlt er ihnen, dort seinen Rekord anzugreifen. Tatsächlich kann es das Vinschgau an Abfahrtsrouten mit Davos aufnehmen, nicht aber an Bergbahnen. Gerade mal zwei fest installierte Aufstiegshilfen gibt es da: eine Gondel am Südhang, ein Sessellift auf der gegenüberliegenden Talseite. Natürlich nutzen die beiden Bikerinnen die vorhandenen Bahnen so oft es geht, d.h. für so viele Trails, die sie von deren Bergstation aus erreichen können. Um die 15.000 voll zu machen braucht es aber vor allem Shuttle-Fahrten. Und umso minutiöser muss die Planung sein, um an einem Tag genügend oft in die Höhe zu gelangen.

CARO&ANITA_GEHRIG_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_005

Dafür ist einer zuständig, der sich mit Höhe auskennt: Martin Pirhofer heisst er, führt ein 4-Sterne-Hotel, ist daneben Bike-Guide und mit 2.03 Metern Körpergrösse weiss er, wie man von weit oben nach weit unten gelangt. Neben ihm sehen die auch nicht gerade kurz gewachsenen Bikerinnen wie kleine Mädchen aus. Auf den ebenso steilen wie felsigen Trails ist der Mittvierziger mehr als flott unterwegs und daneben glänzt er als Organisator. Fahrer, Guides, ein Physiotherapeut und ein Radmechaniker halten sich bereit und an seine Anweisungen. Eine Spezialgenehmigung dort, fünfzehn Portionen Pasta da, ein 29-Zoll-Tubeless-Rad, an einer Tankstelle bereit gestellt – alles kein Problem, wenn man den langen Martin, wie er im Tal genannt wird, an seiner Seite hat. Man wird das Gefühl nicht los, er könnte auch eine Ladung Pizzas auf einen Berg liefern oder mal eben einen Fluss stauen lassen.

MAKING-OF_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_058

Der lange Martin und seine Helfer

15000 Höhenmeter tut er sich trotzdem nicht an. Einen Teil des Tages übernimmt sein junger Kollege Felix das Guiding. Als wichtiger Erfolgsfaktor entpuppt sich ein weiterer Einheimischer: Franz. «Der beste Rallye Driver, den es gibt» schwärmt Anita. Schmalste Bergstrassen brettert er in einer Geschwindigkeit hoch, dass sich die beiden Bikerinnen oben erst mal hinlegen müssen, um ihren Mägen zu beruhigen. Was beim Verpflegen und Aufladen der Bikes im Tal an Zeit verloren geht, holt Franz mit seinem Pickup wieder auf. «Ich bin gefahren wie eine Sau, und das war auch nötig», ordnet er seine Fahrweise ein.

MAKING-OF_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_020

Dabei bieten die Trails genügend Spannung: steil, verblockt, immer mal wieder ausgesetzt; Rinnen, Traversen, spitze Felsen und rutschige Wurzeln – es fehlt an nichts, was das Biken anspruchsvoll macht. Dass die Wege auf wenigen Kilometern grosse Höhendifferenzen überwinden, ist ganz im Sinn der Rekordjagd. «Aber wir hätten uns definitiv ein einfacheres Gebiet aussuchen können, um 15000 Höhenmeter hinunter zu fahren», sagt Caro nach der x-ten Abfahrt. Kommt hinzu, dass die beiden Enduro-Spezialistinnen zwei Drittel der Trails am Rekordtag zum ersten Mal sehen. «Das hilft um konzentriert zu bleiben», streicht Anita das Positive hervor.

VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_074

Nicht ganz freiwillig setzen sich Anita und Caro an einen Tisch und verdrücken eine Portion Pasta. «Infeffizient» finden sie die halbstündige Mittagspause. Acht Stunden sind sie zu diesem Zeitpunkt unterwegs und sie haben noch nicht mal die Hälfte der angepeilten Höhenmeter hinter sich. Bei aller Lust auf noch mehr Trails, die Aussicht auf weitere acht Stunden rauf und runter ist mässig attraktiv.

Cliffhanger am Sessellift

Und als bräuchte es noch mehr Zeitverlust verpasst es der nette Mann am Sessellift, Anitas Bike vom Haken zu nehmen. Händeringend sehen die Zwillinge das Rad talwärts baumeln. Einen Rückwärtsgang hat die Bahn nicht. Nochmals ganz runter und wieder hoch würde weitere vierzig Minuten kosten, der Zeitplan wäre endgültig im Eimer. Da entdeckt der eben noch schläfrige Arbeiter den Helden in sich. Er klettert den Mast hoch, hangelt sich zum Bike, lässt dieses an einem Seil zu Boden und steigt selber wieder ab. Die Höhenmeterjagd kann weiter gehen.

CARO_GEHRIG_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_072

Wenig später erreicht sie einen weiteren Höhepunkt: «Holy Hansen» heisst der Trail, benannt nach dem Vater von einem der Erbauer. Untypisch für die Gegend besticht er mit gebauten Anliegern und Sprüngen und hat Flow ohne Ende. Die anderen Trails gehören, wie bereits erwähnt, eher zur Kategorie Handstand auf dem Lenker. Natürlich bieten auch diese jede Menge Spass, aber eben nur für jene Spezies Biker, deren Unterarme so stark sind wie ihre Oberschenkel, die auch dann ruhig Blut bewahrt, wenn ihnen selbiges in den Kopf läuft, weil sich der Rest des Körpers oberhalb befindet. «Immer wieder ist die einzige fahrbare Linie 20 Centimeter breit und du willst wirklich nicht woanders lang fahren» beschreibt Anita auf einer der Unzähligen Shuttle-Fahrten. Die Konzentration zu halten, während Arme und Hände schwächer werden, ist die grosse Kunst an diesem Tag.

Für den Energienachschub ist an diesem Tag auch Helen Gehrig, die Mutter der Zwillinge zuständig. Zusammen mit Vater Karl steht sie bereit, wenn das Quartett, zu dem neben dem Guide auch ein Kamerafahrer gehört, unten ankommt. Neben den üblichen Energiegels, Recovery-Shakes, Carbo-Elektrolyt-Lösungen und der Flügel verleihenden Energiebrause steht auch Handfestes wie Trockenfrüchte, Schokolade, Sandwiches oder Porridge bereit. Nervös wird die Mutter nur, wenn sie den nächsten Ankunftsort nicht findet. «Die brauchen ihre Verpflegung, sonst stehen sie das nicht durch», ist sie überzeugt. Wohl mit Recht, jedenfalls lässt der Hunger der beiden nicht nach. Vater Karl, selber Radfahrer mit Leib und Seele, kümmert sich derweil um das Bike, das gerade am meisten Schwierigkeiten macht, wechselt ein Rad, zieht eine Schraube nach oder verkündet: «das hält schon, mach dir keine Sorgen.»

CARO_GEHRIG_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_009

Harte Trails bis zum letzten Meter

Unbarmherzig brennt die Sonne an diesem Tag, auch in hohen Lagen ist es über 30 Grad im Schatten. Einfacher wird die Aufgabe nicht, so viel ist klar. Die 10000-Höhenmeter-Marke feiern sie spontan mitten im Wald. Die letzten 5000 Meter schaffen wir auch noch!» machen sie sich Mut – und sie wissen, dass die noch verdammt lang werden. «So langsam bin ich im Modus Autopilot» verkündet Caro auf einer weiteren Fahrt nach oben und Anita gibt zu: «das ist definitiv ausserhalb der Komfort-Zone.» Zwar war in der Vorbereitung die Rede davon, dass gegen Ende einfachere Trails gefahren werden sollen – eben, weil Konzentration und Bremsmuskeln schwächer werden. Aber «einfacher» ist ein relativer Begriff und schliesslich ist immer noch in annehmbarer Zeit genügend Höhe zu vernichten. Also geht es weiter steil talwärts und die beiden Bike-Profis steigen auch mal ein paar Höhenmeter zu Fuss ab. Zu gross das Risiko nicht nur den Rekord sondern auch den Rest der Saison zu verspielen.

CARO&ANITA_GEHRIG_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_018

«Noch 500 Meter», verkündet Anita, mit Blick auf die 14499 Höhenmeter kumulierte Abfahrt auf ihrem Bike-Computer. Anita hat ihren aus Versehen auf Null gestellt. Caros Gerät fassen sie deshalb wie ein rohes Ei an, wenn sie es im Auto aufladen. Es ist 21 Uhr und eine weitere Vorgabe wird nicht erfüllt: Die beiden wollten bei Tageslicht ankommen. Dies auch deshalb, weil sie noch nie Trails in der Dunkelheit und mit Bike-Leuchten gefahren sind. Das Gleiche gilt für Guide Martin, der einen seiner Trails nun von einer neuen Seite kennenlernt. Es wird noch richtig ungemütlich zum Schluss und passt damit zum Abenteuer, auf dass sich die Zwillinge einliessen, ohne irgendeinen Anhaltspunkt zu haben, ob sie zu 15000 Höhenmetern Abfahrt in der Lage sein würden.

CARO&ANITA_GEHRIG_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_076

Jeder, der schon in der Nacht Trails gefahren ist, weiss: auch mit dem stärksten Scheinwerfer ist es äusserst gewöhnungsbedürftig – die Hindernisse scheinen schneller auf einen zuzukommen und die Tatsache, dass man entgegen der eigenen Wahrnehmung langsamer unterwegs ist als bei Tag, macht jede Wurzel und jeden Absatz noch höher.

MAKING-OF_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_083

Das dunkle Ende

Vor dem Hotel hat schreibt Karl Gehrig unterdessen die Zahl 15000 auf Klopapier, das er mit seiner Frau über die Strasse spannen will, auf der die Heldinnen gefahren kommen werden. Die Kirchglocke schlägt zehn, noch immer keine Anzeichen ihrer Töchter. Ein Unfall auf der letzten Abfahrt wäre kein Zufall, im Dunkeln und nach über 16 Stunden Dauer-Riding. Viertel nach und noch immer keine Biker in Sicht. «So lange hatte ich noch nie eine Klopapierrolle in der Hand» verkündet Karl. Die Kameraleute des Schweizer Fernsehens, welches das Abenteuer als «Sommer-Challenge» senden wird, können das Ende kaum erwarten. Und dann kommen sie doch noch, jubeln schon in der Anfahrt, durchtrennen das Klopapier, fallen sich und allen anderen in die Arme. Die Unterarme sind sogar noch stark genug, um ein paar Champagnerflaschen zu entkorken. «Wir sind den ganzen Tag lang geile Trails gefahren, es hat eigentlich immer Spass gemacht», versichern sie in erschöpfter Euphorie, «aber jetzt ist auch mal gut und so schnell brauche ich keine Trails mehr», schiebt Anita nach. 15117 Meter Abstieg zeigt der Radcomputer an. Und niemand ausser Caro und Anita wissen, wie sie sich anfühlen.

MAKING-OF_VINSCHGAU_LATSCH┬®RUGGLI_084

Text & Bilder: PR Gehrig


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als ENDURO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die Mountainbike-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!