Ein Bike, sie alle zu knechten – das neue Hail von Liv (der Tochterfirma von Giant) soll für alles herhalten, von Rennen der Enduro World Series bis zu Ausfahrten mit der Familie. Wir hatten die Gelegenheit, uns das Hail genauer anzuschauen, es zu fahren und mehr über das Bike und den ersten Girls-Only-Bikehersteller zu lernen.
Das Konzept der Liv Hail-Modelle
Das Leben vieler Kleidungs-, Fahrrad- und tausend anderer Hersteller wäre deutlich einfacher, wenn wir Menschen nur zwei Größen hätten: männlich und weiblich. Zum Glück ist das aber nicht der Fall und wir alle unterscheiden uns in mehr Dingen als Achsenstandards. Wir Frauen bewegen uns zusätzlich irgendwo zwischen den gepflegten Prinzessinnen und den Wildfängen, die noch nie was von dem Wort „Pediküre“ gehört haben. Das Gleiche gilt auch für unsere Körper: von prall bis gertenschlank gibt es uns in jeder Form und ohne viele Gemeinsamkeiten, auch wenn die Liebe zu Kuchen uns mit Sicherheit eint.
Auch wenn wir uns in vielen Dingen unterscheiden, haben wir physisch doch einiges gemeinsam. Ohne verallgemeinern zu wollen, lässt sich sagen, dass breitere Hüften, schwächere Schultern und kürzere Arme weibliche Aspekte sind, die bei der Passform eines Bikes ins Gewicht fallen. Einfach kleinere Bikes zu fahren klappt deshalb nicht, wir sind nicht einfach kleinere Männer!
Genau dieses Problem will das Team von Liv lösen, indem es ernst zu nehmende Bikes für Frauen entwirft und nicht einfach nur ein „Männerbike“ mit schmalerem Lenker und einer anderen Farbgebung anbietet. Erhöhter Komfort erhöht die Selbstsicherheit, die mögliche Geschwindigkeit und den Spaß. Wir waren also gespannt auf das Liv Hail.
Wie macht Liv das?
Im Englischen gibt es eine Redewendung, die wörtlich übersetzt heißt: „Wenn es nicht kaputt ist, musst du es auch nicht reparieren.“ Warum etwas ändern, das gut funktioniert? Nun, das Team von Liv war der Überzeugung, dass das Konzept der Bikes für Frauen nicht gut funktionierte, sondern kaputt war und einer Reparatur bedurfte. Der beste Weg war hier ein absoluter Neubeginn, das Zerreißen bestehender Designs, um ganz von vorne zu beginnen. Zurück am Zeichenbrett machten sich die DesignerInnen und IngenieurInnen an die Arbeit und begannen mit dem wichtigsten Teil des Design-Prozesses: dem Vermessen des weiblichen Körpers. Dank einer Datenbank mit über 250 verschiedenen weiblichen Anatomien begannen sie, das zu entwerfen, was sie als die Krönung des frauenspezifischen Bike-Designs erachteten.
Der nächste Schritt der Entwicklung war das Feedback von fähigen Fahrerinnen. Viele solcher Frauen wurden also gebeten, den Prototyp zu fahren und ihre Meinung dazu abzugeben. Darunter war Leigh Donovan, die schon ein Downhill-Star war, als der Sport noch experimenteller und progressiver war. Die Fähigkeit, die Änderungen zu artikulieren, durch die ein Bike so gut wie möglich wird, wird oft unterschätzt und Leigh hat hierin einige Erfahrung. Unter ihrem Einfluss hat sich das Hail weiterentwickelt, bis es schließlich vor uns stand.
Technik und Geometrie des Liv Hail
Das Team von Liv möchte sein Bike nicht in Bezug auf konventionelle Bikes beschreiben. Den EntwicklerInnen ist der Anspruch wichtig, ein einzigartiges Bike entworfen und nicht einfach nur ein Giant Reign „weiblicher“ gemacht zu haben. Der Rahmen scheint für den weiblichen Körper gut proportioniert und deckt dank der Größen XS und L ein breites Spektrum an Weiblichkeit ab.
Am Bike findet sich die RockShox Lyrik RCT3 Dual Position, die an der Front 130 oder 160 mm Federweg zur Verfügung stellt, um die Vielseitigkeit und Wendigkeit des Bikes zu erhöhen. Sie arbeitet zusammen mit dem RockShox RC3 Deluxe-Dämpfer mit 160 mm Federweg, der zwischen Open, Pedal und Lock umgeschaltet werden kann. Der RC3 verfügt über die Trunnion-Befestigung, die sich auf Höhe des Kolbens befindet und so den Einbau von Dämpfern mit mehr Hub, die Absenkung des Schwerpunktes und eine Kürzung der Kettenstreben ermöglicht.
Der Maestro-Hinterbau hat einen schwebenden Drehpunkt, der für Antriebseffizienz und Agilität auch beim Bremsen sorgen soll. Der obere Umlenkhebel besteht aus einem speziell gefertigten Carbon-Verbundstoff. Dieser wird multidimensional verlegt, zusammengeschnitten und laminiert, um dann zusammengebacken zu werden. So bekommt man im Zentrum des Bikes eine leichte und hochstabile Komponente.
Der 66°-Lenkwinkel passt perfekt zu den Enduro-Eigenschaften des Hail und ergibt mit dem steilen 74°-Sitzwinkel eine progressive und moderne Geometrie.
Das Liv Hail kommt, je nach Modell, in verschiedenen Farbschemata. Und machen wir uns nichts vor, wenn man etwas mehr Geld für ein Bike ausgibt, muss die Farbe einfach stimmen. Liv hat dabei alles richtig gemacht: Die Farben sind weiblich, ohne nach Mädchen auszusehen, und attraktiv, ohne dem Drang nach Schmetterlingen und Blumen nachzugeben.
Größe | XS | S | M | L |
---|---|---|---|---|
Oberrohr | 570 mm | 585 mm | 610 mm | 625 mm |
Steuerrohr | 95 mm | 100 mm | 115 mm | 130 mm |
Lenkwinkel | 66° | 66° | 66° | 66° |
Sitzwinkel | 74° | 74° | 74° | 74° |
Kettenstrebe | 435 mm | 435 mm | 435 mm | 435 mm |
Radstand | 1.145 mm | 1.160 mm | 1.188 mm | 1.205 mm |
Reach | 404 mm | 418 mm | 439 mm | 450 mm |
Stack | 576 mm | 580 mm | 594 mm | 608 mm |
Das Liv Hail Advanced 0 auf dem Trail
Wir hatten die Möglichkeit, das Hail auf den staubigen Trails in Sedona, Arizona, zu fahren – ein Terrain, das sich vom nordeuropäischen nicht mehr unterscheiden könnte. Unsere 170 cm große Testerin fuhr einen M-Rahmen, der perfekt passte. In der begrenzten Zeit fühlte sich das Bike bequem an, die Position war aktiv und dynamisch. Das erste, was am Liv Hail auffiel, war die beeindruckende Klettereffizienz. Auch über steinige, technische Anstiege und längere Rampen ist man dank des steilen Sitzwinkels auf dem Hail immer in einer guten Position, um Power auf den Trail zu bringen und sich über alle Hindernisse hinwegzusetzen. Unsere Testerin nutzte die Absenkung der Lyrik, wodurch sich der Lenkwinkel änderte und sie weiter über das Vorderrad brachte. Auch wenn das bei steileren Anstiegen praktisch war, kann man sich fragen, ob dieses Feature bei den hervorragenden Klettereigenschaften des Hail wirklich nötig ist.
Dank der 50er SRAM Eagle-Kassette ist die Übersetzungsbreite für jede Lebenslage ausreichend und macht die Montage einer Zweifachkurbel zum Glück überflüssig.
Auf den steinigen Abfahrten und in schön geschwungenen Kurven nahm das Hail Schläge gut auf und schluckte jedes Hindernis, der kurze Hinterbau sorgte für ein verspieltes und agiles Handling. Das Fahrwerk kam auch mit wiederholten Schlägen gut zurecht und versteifte nicht, auch wenn wir es gerne auf noch verblockteren Trails auf seine Grenzen getestet hätten.
Die verbauten Schwalbe Magic Mary-Reifen krallten sich im staubigen Wüstenboden fest, die bissigen SRAM Guide-Bremsen mit 180-mm-Scheiben waren auch in der Hitze so kraftvoll wie zuverlässig. Am Liv Hail findet sich ein 800 mm breiter Lenker, den man bei Bedarf kürzen kann. So hat man die Wahl, wie breit das Cockpit sein soll. Einziger Kritikpunkt ist, dass der Lenker entweder selbst gekürzt werden oder mit zu breitem Lenker gefahren werden muss, denn nicht jede von uns schmalschultrigen Mädels traut sich mit der Säge an den Lenker.
The Range
Es gibt insgesamt vier Modelle: Das Hail Advanced 0 (6.999,90 €), das Hail Advanced 1 (4.499,90 €), beide mit Carbon-Kompositrahmen, sowie das Hail 1 (3.499,90 €) und Hail 2 (3.199,90 €) mit AluxX SL-Aluminiumrahmen. Wir hatten das Glück, das Flaggschiff Hail Advanced 0 mit seiner Wunschlos-glücklich-Ausstattung fahren zu dürfen. Es wird nicht in jedem Land alle Modelle geben, also checkt vorher die Giant Homepage.
Fazit
Das Liv Hail Advanced 0 ist eine leichte und effiziente Trailmaschine. Das Team von Liv hat eine Menge Hirnschmalz und Mühe investiert, um dieses begehrenswerte und sowohl auf Abfahrten als auch bergauf hervorragend arbeitende Bike hervorzubringen. Wir freuen uns schon darauf, das Bike für einen Langzeittest zu bekommen und durch einen europäischen Winter zu treiben. Hier wird sich zeigen, ob der kurze Hinterbau und die schmale Lücke zwischen Hinterrad und Sitzrohr zu matschigen Problemen führen werden. Liv hat dieses Bike als „Enduro World Series Ready“ angepriesen – wir sind also gespannt, wie es sich auf heftigeren Abfahrten mit schnellen, wiederholten Schlägen bewähren wird.
Weitere Informationen finden Sie auf der Liv Website
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Text: Fotos: Sterling Lorence