Ausgabe #034 Special

Die große Verwirrung: Warum Geometrietabellen uns nicht weiterbringen

Je mehr ich mich mit Geometrietabellen beschäftige, umso mehr muss ich an den berühmten Satz von Sokrates denken: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Jede neue Erkenntnis wirft ganz automatisch mindestens zwei neue Fragen auf. Das Ganze führt so weit, dass ich mich mittlerweile frage: Wäre es nicht besser, auf Geometrietabellen zu verzichten?

Wer hat beim Kauf seines letzten Autos den Radstand verglichen, sich über den Sturz der Räder Gedanken gemacht oder die Gewichtsverteilung analysiert? Vermutlich niemand. Warum machen wir das also alle bei unseren Bikes? Was erhoffen wir uns davon? Spürt man es wirklich, wenn der Lenkwinkel ein halbes Grad steiler oder flacher ist? Oder gibt es möglicherweise Faktoren, die das Handling viel stärker beeinflussen?

Was steht eigentlich in einer Geometrietabelle?

Eine Geometrietabelle ist für viele so was wie die Bibel der Mountainbiker. In ihr suchen wir Antworten und hoffen auf Erleuchtung. Tatsächlich finden sich in der Geometrietabelle unzählige Angaben zu den Parametern eines Bikes: Lenkwinkel, Oberrohrlänge, Radstand, Kettenstrebenlänge, Tretlagerabsenkung u. v. m. Doch was erfährt man von den einzelnen Werten? Die im Jahr 2008 von Transition und Turner präsentierten neuen Geometriedaten Reach und Stack geben zumindest eine grobe Orientierung, wie man auf dem Bike in der Abfahrt steht, wie lang der Hauptrahmen ist und wo sich der Lenker befindet. Allerdings verraten sie bei Weitem nicht, wie sich das Bike bergab fährt. Und es gibt noch jede Menge Daten, die für sich allein nichts aussagen.

Wieso sollten nur wenige Millimeter Unterschied beim Radstand ein Rad plötzlich unfahrbar machen?

Was die Geometrietabelle uns nicht verrät

In der Geometrietabelle findet man zwar Angaben zur Oberrohrlänge, doch leider erfährt man von ihr in der Regel nicht, wie die Sitzposition bei ausgefahrenem Sattel wirklich ist. Der Grund: Die meisten Sattelrohre besitzen einen Knick und sind dadurch deutlich flacher, als es der effektive Sitzwinkel (dieser wird auf Höhe des Steuerrohrs gemessen) vermuten lässt. Dadurch wandert man bei einem längeren Sattelauszug automatisch immer weiter über das Hinterrad. Um herauszufinden, wie stark sich der Sitzwinkel verändert, haben wir bei den Bikes unseres letzten Vergleichstests die Winkel auf Höhe des Steuerrohrs und mit 75 cm Auszug (Mitte Tretlager bis Mitte Sattelrail) verglichen. Das Ergebnis: Je nach Bike flacht der Sitzwinkel um 1,3° ab. Doch noch eine Messung war spannend: Verschiebt man den Sattel auf der Stütze, lässt sich dadurch der Sitzwinkel um knapp 2° anpassen.

Die einzelnen Faktoren beeinflussen sich gegenseitig

„Boah, das Bike sieht ja echt mega geil aus, aber der Lenkwinkel ist 0,5° zu steil!“ Sätze wie diesen liest man ständig, wenn ein neues Rad vorgestellt wird. Doch das Handling auf einzelne Geometriedaten zu reduzieren, ist grundlegend falsch. Die Faktoren der Geometrie beeinflussen sich gegenseitig. Die Laufruhe eines Bikes wird z. B. nicht nur von einem flachen Lenkwinkel bestimmt, sondern auch von Faktoren wie der Tretlagerhöhe, der Länge des Hauptrahmens und Hinterbaus oder auch dem Vorlauf der Federgabel. Ganz entscheidend ist obendrein das Fahrwerk.

Nach unzähligen Gesprächen mit vielen Industrieexperten bin ich mir sicher: Aktuelle Geometrietabellen verwirren mehr, als sie nutzen!

Viele Jahre galten kurze Kettenstreben als das Nonplusultra. Heute wissen wir: Kurz ist nicht unbedingt besser. Das Zauberwort heißt Balance. Ist der Hinterbau zu kurz, muss man als Fahrer sehr aktiv fahren, um ausreichend Druck auf dem Vorderrad aufzubauen.

Die genauesten Werte bringen nichts, wenn sie falsch verstanden werden

Am wenigsten Aussagekraft haben Geometriedaten dann, wenn sie von ihrem Leser falsch interpretiert werden. So hat bspw. der Reach beim Mountainbike keine Aussagekraft über die Sitzposition. Auf einem Rad mit extrem langen Reach (z. B. Pole MACHINE Reach 510 mm Gr. L) sitzt man bei gleichzeitig steilem Sitzwinkel (79°) deutlich aufrechter und kompakter als auf einem Rad mit kurzem Reach, dafür aber flachem Sitzwinkel.

  Der Reach hat nichts mit der Sitzposition bergauf zu tun!

Alt vs. neu: Der Radstand und Reach sind extrem gewachsen, die Sitzposition ist aber noch immer ähnlich.

Das Fahrrad ist dynamisch, was bringen da statische Daten?

Ein weiterer Grund, weshalb Geometriedaten nur wenig Aussagekraft besitzen: Sie beziehen sich auf den ausgefederten, statischen Zustand eines Mountainbikes. Speziell bei vollgefederten Bikes hat jedoch der Hinterbau enorme Auswirkungen auf die Geometrie. Besitzt ein Rad bspw. einen sehr antriebsneutralen Hinterbau mit hohem Anti-Squat, der sich unter Kettenzug auseinanderzieht, dann ist der Sitzwinkel bergauf steiler als bei einem Bike, das unter Last wegsackt. In der Abfahrt ist der Einfluss des Fahrwerks sogar noch größer. Ein guter Hinterbau filtert Unebenheiten feinfühlig weg, ohne dabei den Input des Fahrers verpuffen zu lassen. Ist das Heck jedoch störrisch, leidet die Laufruhe darunter enorm. Versackt Energie, leidet die Agilität. Angaben dazu findet man jedoch in keiner Geometrietabelle.

Geometrien ähneln sich oft immer mehr, doch entscheidend für das Handling ist auch das Fahrwerk – und das kann man in keiner Geotabelle ablesen!

Ciao, Geometrietabelle!

Wir sollten aufhören, in Geometrietabellen nach Wahrheiten zu suchen. Man wird sie dort in der Regel nicht finden. Würde ich Geometrietabellen und den damit einhergehenden Vorurteilen zu einzelnen Werten glauben, wären einige Bikes, die ich in letzter Zeit getestet habe, eigentlich unfahrbar. Doch oft war genau das Gegenteil der Fall. Die meisten bekannten Geometriedaten bringen der Vielzahl von Bikern keinen Mehrwert. Im Gegenteil, sie verwirren nur unnötig. Den Kauf seines zukünftigen Bikes sollte man daher niemals von der Geometrie auf einem Stück Papier abhängig machen. Um zu erfahren, wie sich ein Bike fährt, braucht es einen Blick aufs große Ganze, nicht auf einzelne Zahlen. Und hier helfen nur glaubwürdige Tests und eine ausgiebige Probefahrt.

Text: Christoph Bayer Bilder: Christoph Bayer, Toni Rutanen Illustration: Julian Lemme


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