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Manchmal braucht es eine Initialzündung. Der Stein oder, besser gesagt, das Bike muss ins Rollen kommen, damit sich neue Horizonte auftun. Am besten klappt das, wenn man der neuen Herausforderung ohne Vorurteile begegnet. Leichter gesagt als getan. Die typisch deutsche Sichtweise aus dem Kopf zu bekommen, ist gar nicht so einfach. Amerika ist verdammt anders: lauter, größer und in vieler Hinsicht extremer.

‘American Pride’ and proud declarations of patriotism express that stereotypical American mentality.
„American Pride“ und patriotische Loyalitätsbekundungen sind Ausdruck des typisch amerikanischen Selbstverständnisses.

Das „Land of the Free“ kommt mit vielen Schildern, Verboten und Gesetzen daher. Die massive Polizeipräsenz und Amerikas sogenannte Zivil-Gesellschaft sind gewöhnungsbedürftig. „Support the Troops“ – gerade in der Hauptstadt hat man es mit einer stolzen Supermacht zu tun. Pentagon, NSA, und CIA sitzen in Washington D.C. und das führt zu amerikanischen Flaggen und patriotischen Loyalitätsbekundungen, wohin das Auge blickt. Das Arsenal an Kriegswaffen im Outdoor-Supermarkt und eine erschreckend hohe Kriminalitätsrate passen dazu.

US cities have a seriously high crime rate – better watch your back!
US-Großstädte leiden unter massiven Kriminalitätsraten – better watch your back!

Neben allen politischen und sozialen Gegensätzen ist Amerika aber auch das Land der kulturellen und religiösen Freiheiten. Jeder kann hier „anbeten“, was er will. Ein Schmelztiegel der Kulturen – vor allem in einer ethnisch stark durchmischten Metropole wie Washington, D.C. Ein echtes Einwanderungsland nach wie vor, in dem Menschen aus allen Teilen der Welt eine neue Heimat finden. „Welcome to America“ ist keine Floskel: Fremden wird meist offen, interessiert und freundlich begegnet. Besonders mir als Deutschem. Denn Germany steht hoch im Kurs: Gutes Bier, schnelle Autos und „German quality“ sind bestens bekannt. Fast jeder Amerikaner weiß mittlerweile auch, wo das kleine mitteleuropäische Land auf der Weltkarte zu finden ist. Oktoberfest, amerikanische Militärbasen und häufig auch die eigenen deutschen Vorfahren lassen grüßen.

Respect the trails!

Und da sitze ich nun, im Mutterland des Mountainbikes, aber – wie ich schon befürchtet hatte – auf der „falschen“ Seite des Kontinents: An der dichtbesiedelten, flachen Ostküste, wo ich bisher kaum Trails, geschweige denn Biker kenne. Auch Whistler und die goldene Westküste sind immer noch eine verdammte Weltreise entfernt. „What a bummer!“ Das Land ist riesig und die Distanzen scheinbar endlos. Auch das Atlantikklima an der US-Ostküste ist gewöhnungsbedürftig für mich. Plötzlich fehlt mir das langweilige, häufig nass-kalte Wetter in Deutschland. Die extrem kalten Wintermonate und der subtropische Sommer Virginias sind eine krasse Umstellung.

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Virginia’s intensely cold winter and subtropical summer are markedly different.
Die extrem kalten Wintermonate und der subtropische Sommer Virginias sind eine krasse Umstellung.

Anfang März wird es schlagartig warm, von 5 °C und Schneeregen auf 23 °C in wenigen Tagen. Mit dem Blitz-Frühling kommen die täglichen Gewitter. Monsunartig, genug um die aufwendig gebauten Trails im Umkreis von D.C. aufzuweichen. Ich muss die geltende Trail-Etikette zähneknirschend akzeptieren: „Don’t mess with wet trails!“ In einer Großstadt mit ca. 6 Mio. Einwohnern macht die strikte Regel Sinn. Öffentliche Trailnetze sehen an einem Sonntag bis zu 100 Fahrer. Bei Matsch und Nässe wären diese schnell ruiniert.

Not macht erfinderisch

Boardshorts und Flip-Flops im März, aber nach wie vor kein Saisonstart in Virginia wegen Starkregen. Heißt: wenig Chancen, die Trailheads Washingtons zu erkunden. Bikeparks wie Snowshoe und Bryce öffnen auch erst Mitte Mai. Ich bin am Durchdrehen, mir fehlt das Biken brutal. Doch die East Coast Gravity-Szene steht bereits in den Startlöchern – virtuell, auf Facebook und in den Onlineforen. Ich lerne erste Biker-Gruppen kennen, nehme aus purer Verzweiflung am March15 Shenduro, einem Grassroots Enduro-Rennen im Shenandoah Valley teil. Keine zwei Stunden von D.C. entfernt, sieht es um diese Jahreszeit in den Ausläufern der Appalachen besser aus: Uralte Naturtrails im Back-Country verkraften Mountainbikes auch wenn es feucht ist.

‘How to find new trail buddies’ – this grassroots enduro race provided the first opportunity to get to know some local riders.
„How to find new trailbuddies“: Das Grassroots Enduro-Race bietet erste Gelegenheit, mit Local Ridern zu fahren.
The ‘stream crossing’ through ice cold snow run-off during the March15 Shenduro.
„Bachdurchquerung“ beim March15 Shenduro. Es geht durch eiskalte Stromschnellen.
The support team (consisting of my wife Caroline and our black lab Froaig) enjoying the spring sunshine in the Shenandoah Valley.
Das „Support-Team“ genießt die Frühlingssonne im Shenandoah Valley – meine Frau Caroline und unser Black Lab Froaig.

Das Rennen ist ein Desaster für mich. Null Vorbereitung, keinerlei Orts- bzw. Trailkenntnis, anspruchsvolle Stages, vor allem bergauf. Bei strahlender Sonne, aber schneidendem Wind und Temperaturen unter 10 °C werden Bachdurchquerungen und ausgesetzte Bergflanken zur Herausforderung. Nach gut 8 h im Sattel bin ich am Ziel, weit abgeschlagen, vollkommen fertig. Wichtiger aber ist, dass ich an diesem Tag neben guten Trails eine Handvoll Rider aus allen Teilen Virginias kennengelernt habe. Beim After-Ride-BBQ und einigen Craft Beers werden Telefonnummern ausgetauscht und ich erfahre von einem legendären Secret Spot unweit von D.C.

Ich bin Feuer und Flamme. Verwackelte Videos auf YouTube bestätigen meine Hoffnungen: ein wildes Freeride- und Enduro-Paradies mit natürlichen Drops, Northshores, vielen Kickern, technisch und felsig. Sick! Tage später werde ich auf Facebook zur Geheimgruppe eingeladen. Der Trip muss still und heimlich geplant werden. Im Staatsforst ist Shutteln zwar erlaubt, zu viele Fahrer verkraftet der „geheime“ Spot aber nicht. Ich wundere mich, dass man mich als Fremden einfach so mitnimmt. Aber so sind die Amis: stolz auf was sie haben, und gerne bereit, zu teilen. Kein Vergleich zu dem traurigen Theater, das manche „Streckenchefs“ in Deutschland veranstalten. Andere Länder, andere Sitten!

Snowbiken mit neuen Freunden

Das Wetter spielt verrückt, es wird bitterkalt. Kurz vor dem geplanten Wochenende fällt ordentlich Neuschnee. Die meisten Fahrer haben Sicherheitsbedenken und springen ab. Ein Snowbike müsste man haben … Aber Mike, Rob und Andrew sind von der unnachgiebigen Sorte. Auch ich will am liebsten absagen, doch am Ende bleibe ich dabei. Meinen ersten Shuttleride kann ich mir nicht entgehen lassen! Ein Klischee wird wahr: In 25 Jahren auf dem Bike war ich noch nie mit einem Pick-up bergauf unterwegs.

Shuttling in this fairytale winter landscape – but even 20 cm of fresh snow can make 4x4s slip and slide.
Shutteln im Wintermärchenland: 20 cm Neuschnee bringen selbst 4×4-Trucks ins Schleudern.

Mike lebt in Fairfax County, fast um die Ecke von mir. Die beiden anderen kommen aus Richmond, gute 150 Meilen entfernt. Fast 3 h Fahrzeit für einen Tag auf dem Big Bike? Klingt verzweifelt, aber auch motiviert. Wir treffen uns 50 Meilen nördlich von D.C. Mikes Truck bleibt im Schnee stecken, steht quer am Hang. Der 50-Jährige mit kubanischen Wurzeln lacht nur kurz, zwirbelt an seinen Dreadlocks und nimmt erneut Anlauf. Der Sound des schweren V8 Chevys erinnert an einen Panzereinsatz, die schwarzen Abgaswolken ebenso. Letztlich bezwingt er die schneebedeckte Anhöhe, wir gratulieren und Pitbull Pups verteilt freudig Hundeküsse.

For the first ride with my new homies, they take me to a secret location for some snow riding.
First Ride mit meinen neuen Trailbuddys.

Zum Warmwerden wird mir ein India Pale Ale in die Hand gedrückt, kurz darauf nehmen wir den ersten Trail. Der Schnee liegt so tief, dass wir kaum vorankommen – es fehlt im oberen Teil an Gefälle. Und ein Big Bike ist kein Vortriebswunder im Tiefschnee. Die Jungs vor mir kennen sich aus, ich folge im Blindflug. Schneematsch und beschlagene Goggle sind schlechte Verbündete. Einsturzgefährdete Kicker zu springen, ohne die Landung zu erkennen, ist auch gemein…gefährlich. Aber so ein IPA-Trailbier macht schön locker. „Trust your bike“, sagen die anderen lachend. Irgendwann lasse ich die Bremshebel los. Verzögern bei Eis und Schnee wird überbewertet und es fühlt sich großartig an. „Loose“, wie man hier gerne sagt.

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In summer the full extent of the trails is visible, and you can expect incredible nature and even more incredible lines.
Im Sommer wird das ganze Ausmaß des Spots erkennbar. Hier erwarten einen fantastische Natur und noch bessere Lines.
One of the few photos of me, the rock drops and the endless ‘techy trails’.
Eines der wenigen Bilder von mir. Und von Felsdrops und „techy trails“ ohne Ende.

Mike hat noch deutlich anspruchsvollere Trails im Programm, mit vielen Bouldern und felsigen Drops. Aber ohne Hasendraht wird die Abfahrt über hölzerne Skinnies zur Rutschpartie. Beim zweiten Mal winke ich dankend ab. Mit jeder Stunde wird es zudem wärmer, der Schnee verwandelt sich in Matsch und der Trail wird nass. Da wir die Lines nicht zerstören wollen, brechen wir den Spaß rechtzeitig ab.

An amazing day on the dirt – rarely have I had so much fun!
Ein großartiger Tag im Dreck – selten so viel Spaß gehabt!

Fortsetzung folgt bei Mike, dem Grillmeister – bis die Bombe platzt: Einige Locals sehen unseren Ausflug auf „ihren“ Trails kritisch und lassen uns das auf Facebook auch wissen. Ein scheinbar endloser, aber fair geführter Shitstorm bricht los. Als Newbie halte ich mich besser raus. Für mich war es jedenfalls ein grandioser Tag im Dreck – mit guten neuen Trailbuddys, die ich schon jetzt nicht mehr missen möchte.

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Der Spot ist so extrem und gut, dass wir einige Monate später nochmal mit Mikes Crew anrücken. Von „geheim“ kann jetzt keine Rede mehr sein, endlos viele Biker jeglicher Gattung scheinen an diesem perfekten Sommertag hier unterwegs zu sein. Diesmal kommen die schweren Bikes voll auf ihre Kosten. Was sich in den Tiefen der Laubwälder versteckt, ist kaum zu begreifen: steil, naturbelassen und trotzdem flowig und gut fahrbar. Felsige Trails, durchsetzt mit tiefen Humuschichten inmitten kniehoher Farnwälder. Dann wieder beachtliche Gapjump-Batterien, von den Locals liebevoll „Sixpacks“ genannt. Fehlen nur noch die Redwoods und man könnte meinen, an der Westcoast zu sein.

Bleibt nur zu hoffen, dass die langjährigen Bemühungen der Locals, die Trails auf eine legale Grundlage zu stellen, schon bald von Erfolg gekrönt werden. Denn der geheime Spot wird garantiert zu D.C.s Number One Trailhead avancieren und damit die US-Hauptstadt ein weiteres Mountainbike-Mekka an der Eastcoast werden lassen. „I can’t wait!“

Hat euch der Artikel gefallen? Dann werft doch einen Blick auf den Rest der Serie: Einführung | Freiburg | Goodbye Germany | Stromberg | Wie klein die Welt doch ist | Mein erster Biketrip in Europa

Text & Bilder: Steffen Gronegger


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