Surfen in den Alpen, Skifahren in der Wüste und Mountainbiken ohne Steine, Wurzeln und Berge: Wird Extremsport immer künstlicher, sobald er im Mainstream ankommt und zum Funsport mutiert? Ein Artikel über die aktuellen Chancen und Herausforderungen der Bike-Szene und darüber, was wir vom Winter- und Surfsport lernen können.

Als uns Andreas Toepfer, Co-Gründer des legendären Snowboard-Magazins Pleasure, kontaktierte, ob wir Interesse an einer Story über den neuen Alaïa Bay Wavegarden hätten, waren wir in der Redaktion gemischter Gefühle. Klar: Biken, Surfen, Snowboarden – das liegt nah beieinander, wird meist von denselben Leuten gemacht, aber dennoch schien das Thema für ENDURO zu weit weg. Kurz bevor wir Andreas absagen wollten, kam die Erkenntnis: Shit! Da passiert etwas – nicht nur beim Biken, sondern in der ganzen Outdoor-Branche! Also E-Mail gelöscht und angerufen: „Hey Andi, lass uns da was gemeinsam machen!“

Endlose, perfekte Wellen und endlose, perfekte Anlieger ohne Steine und Wurzeln.
Foto: Andreas Toepfer, Andreas Putz

Der Gedanke dahinter? Extremsportarten verändern sich. Immer mehr künstliche Möglichkeiten werden geschaffen, um das Extreme und seine Risiken einzugrenzen, zu minimieren und den Sport für eine breitere Masse zugänglich zu machen und zu kommerzialisieren. Man baut also Indoor-Ski-Hallen, Flow-Trails und Wavegardens, die das Sportlerglück nicht mehr von den Launen der Natur und ihren Unwägbarkeiten abhängig machen. Klingt ja erstmal gut, oder? Aber diese Entwicklungen haben auch ihren Preis. Durch diese Entwicklung fühlen sich manche Puristen des jeweiligen Sports aber in ihrer Ehre angegriffen, weshalb auf der anderen Seite der Entwicklung eine Gruppe steht, die dem rasanten Wachstum unserer Lieblingsbeschäftigung kritisch gegenübersteht. Um herauszufinden, wie man damit am besten umgeht, muss man sich erst mal anschauen, wo wir gerade stehen.

Holz und Beton oder …
… Erde?

Status quo – Wie viel „Mountain“ braucht das Mountainbike?

Die Geschichte der Menschheit war schon immer davon geprägt, die Grenzen des Möglichen zu verschieben. Statt etwas zu akzeptieren, hat unsere Spezies stets so lange getüftelt, bis natürliche Grenzen überwunden und Lösungen für unsere Probleme gefunden waren. Und zwar in allen Bereichen des Lebens, auch in allen Sportarten. Um Skifahren bequemer und massentauglicher zu machen, wurden nicht nur Lifte – mittlerweile mit Sitzheizung – und Bergseen zur künstlichen Beschneiung der Pisten gebaut, es wurden im wahrsten Sinne des Wortes auch Berge versetzt. Die Krönung der Domestizierung eines klassischen Outdoorsports findet man just in Dubai: Indoor-Skifahren bei 40 °C Außentemperatur in der Skihalle der Mall of the Emirates.

Foto: Rob Crandall / Shutterstock.com
Foto: Foto: M101Studio / Shutterstock.com
Foto: Andreas Toepfer

Wenn man mal vom Schnee in der Wüste absieht, hat das Mountainbiken eine ähnliche Entwicklung hinter sich: Über die letzten 30 Jahre hat sich das einfache Stahl-Hardtail zum hochgerüsteten Carbon-Fully mit Wireless-Schaltung, Dropperpost und brutal breitem Einsatzbereich entwickelt. Und wo vor 20 Jahren Moser-Touren noch das Highlight des Wochenendes waren, erwartet man heute perfekte Trails und modernste Liftanlagen.

Doch damit nicht genug: Mittlerweile gibt es E-Mountainbikes, die sich vom einstigen Omi-Gefährt zu megapotenten Trailraketen entwickelt haben und entsprechend die Gebirge bevölkern! Bereits 2013 prognostizierten wir bei der Gründung unseres Schwestermagazins E-MOUNTAINBIKE, dass (E-)Mountainbiken das neue Skifahren werden würde. Und genau an diesem Punkt sind wir jetzt angekommen! Das heißt nicht, dass Biken die gleichen Wege wie der Wintersport gehen muss, aber dennoch gibt es zahlreiche spannende Parallelen – und einiges, was wir vom Skifahren und Surfen – lernen und besser machen können!

Wavegarden oder Meer? Welchen Preis bist du bereit zu zahlen?

Bis zu 1.000 Wellen pro Stunde für alle Surfniveaus, Wellenhöhen zwischen 0,5 und 2 m und bis zu 20 verschiedene Wellenarten versprechen die Macher der Wavegardens Alaïa Bay in Crans Montana. Der Wavegarden Alaïa Bay mitten in den Walliser Alpen wurde im Sommer 2021 eröffnet und ist nach England, Australien und Südkorea der vierte seiner Art. Die 8.500 qm große künstliche Lagune bietet zwei Wellen, auf denen gleichzeitig bis zu 80 Surfer in einer sicheren Umgebung surfen können. Keine Fische mit scharfen Zähnen, kein brennendes Salzwasser, keine aggressiven Locals. Die individualisierbaren Wellen kommen genau dann, wnn sie sollen und erlauben schnellere Fortschritte als im Meer. Dass man dort Spaß haben wird, liegt auf der Hand – doch man muss es sich auch leisten können: Eine Stunde Surfen für rund 100 Schweizer Franken ist eine Menge Geld. Dafür geht es auch mit viel Annehmlichkeiten einher. Die Wellen sind garantiert, Surfcoach und Equipment sind inklusive und als Schweizer muss man nicht weit verreisen. Der Wavegarden öffnet nicht nur für die bestehenden 40.000 Surfer in der Schweiz seine Tore, sondern gerade auch für Neueinsteiger. Dies wird von so manchem Surfer durchaus kritisch betrachtet, wie ein Gespräch mit einem australischen Surf-Coach zeigte. Spannend zu hören, dass ausgerechnet ein weltoffener, weit gereister Surfer Dude künstliche Wellen als Gefahr für die Line-ups der Weltmeere betrachtet.

Eiskaltes Salzwasser, die Launen der Natur und weiße Haie in Südafrika …
Foto: Andreas Toepfer
… oder Wellen vom Fließband, Süßwasser und Käsefondue in der Schweiz? Your choice!
Foto: Wavegarden Alaïa Bay

Eine vergleichbare Entwicklung ist auch im Bike-Segment zu sehen: Eine neue Generation von Trails entsteht, die weniger Raum für Risiko und Abenteuer, dafür mehr Einsteigerfreundlichkeit und Fahrspaß für alle Könnerstufen bieten soll. Mehr ganzheitliche Tourismus- und Erlebniskonzepte, in denen der All-inclusive-Urlaub möglich oder das Abenteuer in gewisser Hinsicht bereits vorprogrammiert ist, versprechen Erfolg und Margen. Das sieht man auch an der Entstehung von Bike-Resorts wie beispielsweise dem Rocksresort im schweizerischen Laax oder einer ganzen Bike-Nation wie der Bike Republic in Sölden. Ein breitflächiges Angebot, wo man alles vom Pumptrack bis hin zum Café und Resort-eigenen Restaurant findet.

Quo vadis, ExtremsportFunsport?

Gerade für Familien sind Ressorts und ganzheitliche Tourismuskonzepte natürlich von großem Vorteil, denn bikende Eltern haben letzten Endes oft doch keine Lust oder Energie mehr, alles individuell zu organisieren. Der Genuss oder Stress, in einem italienischen Bergdorf mit Händen und Füßen Pasta zu bestellen, fällt damit jedoch weg. Aber das ist auch okay. Schließlich muss jeder selbst entscheiden, was er von einem Urlaub oder einem Abenteuer erwartet. Und das hat sich über die letzten Jahre stark gewandelt, wie Andreas – der für ENDURO und das Pleasure Magazin bereits vor der offiziellen Eröffnung des Wavegardens im Alaïa Bay war – aus eigener Erfahrung weiß:

„Laut der letzten großen ENDURO-Umfrage bin ich ziemlich durchschnittlich. Nicht alt, nicht jung, ein Trail-Bike in der Garage und deutschsprachig. Meine Nachbarn glauben allerdings, ich sei Extremsportler. Das Einzige, was an mir extrem sein mag, ist meine Vintage-Snowboard-Sammlung. Schaltet man den Fernseher ein oder, besser noch, partizipiert man an Social Media wie die übrigen 4,3 Milliarden User, wird schnell klar, dass es mit den einstigen Extrem-, Rand-, Funsportarten nicht weit her ist.

Mountainbiken, Snowboarden und Surfen begeistern mich seit vielen Jahren. In meiner Anfangszeit existierten weder Clickies, Dropperposts noch Federgabeln. Keine Superpipes, Triplecorks oder Airbags. Kein Wavegarden, keine Surfcamps oder Tow-ins. Damals musste man zwei ganze Sommerferien schuften, um sich ein No-Suspension-MTB mit einer der ersten XT-Schaltungen leisten zu können. Ohne Führerschein und Internet beschränkten sich die Biketrips auf Ausfahrten ins lokale Hinterland. Die Grenzen des Möglichen verschob man waghalsig durch Trial and Error. YouTube-Videos, in denen man mit einem Klick sah, dass und wie man tatsächlich springen konnte, gab es nicht. Nur vereinzelte Magazinlektüre. Das Highlight des Wochenendes bestand vielmehr darin, auf den Schotterwegen der Voralpen den eigenen Downhill-Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Bikeparks, Pumptracks, Flowtrails und Shuttletrips – alles nicht existent. Aber hey, mein Bike hatte 21 Gänge!

Inzwischen sind Mountainbiken, Snowboarden und Surfen olympisch. Selbst Skateboarden, weniger Sport als Kunst- und Lebenseinstellung, konnte sich der Kommerzialisierung nicht verwehren und findet sich erstmals im olympischen Programm. Bin ich überhaupt noch authentisch, wenn mein Sport plötzlich Mainstream ist?“

Eine handgeshapte Quarterpipe im bayerischen Backcountry …
Foto: Andreas Toepfer
… oder Dry Ski Slope in Yorkshire, UK. Manchmal muss man nehmen, was man kriegt.
Foto: Matt Georges

(E-)Mountainbiken = Mainstream

731.000 E-Mountainbikes und analoge Mountainbikes wurden 2020 allein in Deutschland verkauft. Dass diese „neuen“ Bikes irgendwo herumfahren, ist logisch. Dass mittlerweile im Wald schlichtweg mehr los ist, merkt man an beliebten Ausflugszielen genauso wie an zahlreichen meist einfacheren Trails, die derzeit deutlich höher frequentiert sind. Klar ist: Mountainbiken ist in den letzten zwei Jahren mit voller Wucht im Mainstream angekommen und aktuell die angesagteste Trendsportart! Einen nicht unerheblichen Teil hat das E-Mountainbike dazu beigetragen, indem es die Mountainbike-Welt für die breite Masse geöffnet und damit auch verändert hat. E-Mountainbikes bieten ein Superman-Gefühl, ohne dass man eine Schweißperle vergießen muss, sie liefern das typische E-Bike-Grinsen bei der Potenzierung der eigenen Kraft und ungeahnte neue Einsatzmöglichkeiten: als Liftersatz, Trainings-Tool oder individuelles Shuttle für die Bikepark-Rats auf der einen Seite, als Autoersatz, Alltagsgefährt oder Familienkutsche auf der anderen Seite. Der Einsatzbereich ist extrem breit und entsprechend massenkompatibel.

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Aus dem Extremsport von einst wurde für viele ein Funsport, eine Freizeitbeschäftigung oder gar ein Lifestyle, in dem das Biken selbst gar nicht so eine hohe Priorität hat. Man will primär raus in die Natur mit der Familie oder Freunden, das Bike ist da eher ein Mittel zum Zweck und gilt nicht als Instrument zum Erleben von Abenteuern, wie das bei der Core-Szene der Fall ist. Best Ager entdecken dank des E-Mountainbikes längst verlorene Freiheiten wieder oder stoßen auf neue Möglichkeiten, um Dinge zu erleben. Die nach 1996 geborene Generation Z macht sich um ihre Fitness hingegen bislang weniger Gedanken, nutzt das E-Mountainbike jedoch ganz pragmatisch, um mehr Runs, mehr Airtime, mehr Shred zu erreichen: Das Adrenalin von maximalem Trailkonsum und der Komfort des schnellen Trailaccess schlagen dann eben doch Couch, Playstation und Tiktok! In Stuttgart, der Geburtsstadt des Automobils, ist das E-MTB sogar zum Statussymbol einer urbanen Pop- und Jugendkultur geworden, wie die erste urbane E-MTB-Gang beweist.

Die Revolution frisst bekanntlich ihre Kinder, ein „Zurück“ gibt es kaum. Im Skibereich ja auch nicht, wo die großen Skigebiete die Norm und Skitourer die Ausnahme sind. Der Trend zur Domestizierung der Extremsportarten, um Angebote für die Masse zu schaffen, ist entsprechend unverkennbar: Es entstehen immer neue Formate und Angebote direkt vor der Haustür. Um Gefahren und Anstrengungen zu reduzieren, werden Trails planiert, entschärft und abgesichert. Die Zielgruppe wird größer und größer und umfasst inzwischen alle Altersgruppen und jedes Geschlecht. Um die steigende Nachfrage zu bedienen, entstehen zahlreiche neue Spielplätze, vom Skillspark über den Pumptrack bis hin zum Flowtrail. Was den Extremsport-Pionieren in ihren kühnsten Träumen unvorstellbar schien, ist heute längst Realität: Skateparks an jeder Ecke, Foampit, Wavegarden, Flutlicht und Lift-Access, für jedermann allzeit zugänglich.

Für maximalen Familienspaß…
Foto: Daniel Geiger
… braucht es die richtigen Strecken.
Foto: Andreas Putz

Verliert das Mountainbiken seine Originalität?

Die Kommerzialisierung einer Extremsportart und die damit einhergehende Domestizierung für die breitere Masse bedeutet zwangsläufig, dass sich ein Sport verändert. Zumindest in Teilen. Und das sorgt für Angst und Unverständnis: Biker regen sich über E-Mountainbiker auf, die andere am Berg überholen. Erfahrene Biker echauffieren sich über die langsameren Anfänger, die sich auf den künstlich angelegten und plattplanierten Flowtrails gen Tal „murmeln“. Die Gründe sind klar: Diese Arten des Bikens führen die puristische Idee des Mountainbikens ad absurdum! Aus Extremsportlersicht mag das stimmen. Aber wie viele Menschen gibt es da draußen in den Städten, die erst viel später als wir die Natur, das Vanlife oder das Biken für sich entdeckt haben und sich Schritt für Schritt in für sie neue Gefilde vortrauen?

„’Flowtrails sind langweilig’ oder ‘Murmelbahnen, Nein Danke!’ – wir machen in der Bike Republic Sölden schon seit 13 Jahren die Singletrail Schnitzeljagd und derartige Aussagen höre ich seit ein paar Jahren immer wieder. Klar – als Vollblut-Mountainbiker, fühle ich mich selber auch auf technisch herausfordernden Naturtrails am meisten zu Hause. Natürlich hat sich das Gesicht der Bike Republic in diesen Jahren gewaltig verändert. Aber das musste es auch! Es gibt immer mehr Biker, und diese wollen aufgefangen werden. Und viele dieser Neuankömmlinge im Mountainbikesport wären schlicht und ergreifend überfordert mit dem fahrtechnischen Anspruch einiger Naturtrails. Und auf gut gebauten Flowtrails kann jeder seinen Spaß haben, auch fortgeschrittene Biker! Ist es nicht auch cool, Mountainbiker zu sein und mit der Seilbahn auf den Berg zu schweben und dann mühelos über Bike-Achterbahnen wieder hinunter zu gleiten? Für mich ist Flowtrail fahren Instant Fun: ein bisschen wie Nescafé: einfach heißes Wasser drauf und los.“ Holger Meyer, Familienvater, Bike-Coach und Veranstalter der Schnitzeljagd

Dass man zum Joggen ins Fitnessstudio geht, haben wir tatsächlich noch nie verstanden, aber Leute mögen ihre Gründe dafür haben. Und so ist es auch bei jeder anderen Sportart! Der Mensch, seine Sichtweisen und Gründe sind derart unterschiedlich, dass man sie nicht in absolute Kategorien wie gut und schlecht einteilen kann.

Carbon oder Silikon – Was ist heute überhaupt noch ursprünglich und puristisch?

Was ist in unserer heutigen Gesellschaft noch puristisch? Mit dem 70.000-€-Van ins Vanlife in den Bergen? Auf dem Carbonfully mit der neuesten FOX 38 durch die Wildnis? Mit dem gezückten Smartphone die Natur erleben?

Dass Purismus in Form von splitternacktem Trailrunning wenig Sinn und Spaß – Dornen im Fuß – macht, ist klar … dennoch stellt sich die Frage: Wie viel Technologie ist essenziell und wie viel ist Prestige, Image, Faszination oder Kommerz? Für den einen ist Carbon eine Umweltsünde, für den anderen der Heilige Gral der Bike-Technologie. Manche betrachten Silikonbrüste als den Inbegriff von Fake, Eitelkeit und Oberflächlichkeit, für andere sind sie schlicht ein Objekt der Begierde. Soll heißen: Was Kunst, Kultur oder Frevel ist, lässt sich pauschal nicht beantworten.

Wer wirft den ersten Stein, was ist authentisch, was ist gesellschaftlich akzeptabel? Darf man in der Skihalle in Dubai keinen Spaß haben? Gleiches gilt für künstliche Wellen wie in den Wavegardens oder die sauber in die Landschaft gestellten Flowtrails. Über manche ökologischen Gesichtspunkte lässt sich zwar kaum streiten, aber wer bestimmt, auf welche Art Menschen in ihrer Freizeit Sport ausüben und Spaß haben dürfen? Wo genau verläuft die Grenze auf der Skala von praktisch bis dekadent? Und wenn wir ganz sicher und schnell eben diese Grenze gezogen haben für eine Sportart, die uns nicht betrifft – welche Konsequenzen ziehen wir aus der gerade angewendeten Logik für unser eigenes Leben? Kaufen wir nur noch dann ein neues Bike, wenn das alte den Geist aufgibt? Fliegen wir nicht mehr nach Whistler? Eine Skihalle in Dubai erscheint den meisten Menschen absurd. Unmengen an Energie zu verschwenden um den perfekten Schnee in der Wüste zu ermöglichen ist wahrscheinlich kaum paradoxer als künstliche Wellen in den Schweizer Bergen. Die Nachfrage bestimmt das Angebot – money runs the world.

Push your limits! Ein guter Bikepark hilft seinen Besuchern, sich sicher und schnell weiterzuentwickeln …
Foto: Markus Trattner
… und richtig viel Spaß machen soll’s natürlich auch – egal ob für Profi oder Einsteiger!
Foto: Andreas Putz

Fakt ist aber auch: Carbon und Silikon können zu tollen Erlebnissen führen, man braucht sie dafür aber nicht zwangsläufig. Denn es lassen sich auch neue Erlebnisse schaffen, ohne dass man sich gegen die Natur stemmt und invasive Eingriffe vornimmt, die meist ökologisch und technologisch einen immensen Aufwand bedeuten. Statt zu versuchen, etwas Altes und Bekanntes in einer Umgebung zu imitieren, die dafür schlichtweg nicht gemacht ist, kann man neue Originale schaffen, indem man im Einklang mit der Umgebung arbeitet. Alles, was es dazu braucht, ist die richtige Dosis Innovationskraft, Kreativität, Pragmatismus und den Mut, neue Wege zu gehen.

„Vor 3 Jahren habe ich auf den Wexl-Trails bzw. der Erlebnisarena in St. Corona am Wechsel in Niederösterreich zum Biken gefunden. Der Flowtrail bietet einen ‘niederschwelligen’ Einstieg, der einem Einsteiger wie mir, genauso viel Spaß macht wie einem DH-Elite-Fahrer. Ohne diese Möglichkeit wäre ich wohl heute nicht quasi täglich auf dem Bike unterwegs – und vermutlich bald auch noch mehr auf dem E-Bike!“ Andreas Putz, Österreichischer Skifahrer und Fotograf

Die große Angst: „Die machen unseren Sport kaputt!?!“

Biken floriert, gewinnt unglaublich an Popularität in der breiten Bevölkerung, eckt durch die schiere Masse an Bikern jedoch auch bei Forst und Behörden an. Eine der größten Herausforderungen und Aufgaben für die Saison 2021 neben dem Thema Trail-Access ist die Community-Pflege. Nicht nur die Bike-Industrie muss das Wachstum verkraften und weitsichtig mit dem momentanen Boom umgehen, auch als Bike-Szene müssen wir nachhaltige Formen der Skalierung finden – am besten zusammen mit Forstbesitzern und städtischen Behörden. Die Szene, ihre Größe und Vielfalt ändert sich und mit ihr wächst auch die Verantwortung aller Beteiligten.

Der Tiefschnee-Tourer im Patagonia-Zwirn ist ein ganz anderer Typus Mensch als das Après-Ski-Party-Animal, das mit Gucci-Sonnenbrille zu Andreas Gabalier grölt. Auf den ersten Blick zumindest. Skifahrer ist nicht gleich Skifahrer, Gleiches gilt auch für Snowboarder und natürlich Mountainbiker. Wie viele Bikerinnen kennt ihr, die komplett fürs Biken und den Adrenalinkick im Bikepark leben? Wie viele Bike-Neulinge habt ihr schon gesehen, die mit dickem Bling-Bling-Carbon-Bike vorfahren – um sich dann ganz vorsichtig auf den Flowtrails vorzutasten, weil sie eigentlich noch keine Ahnung haben? Beides ist okay und am besten kennt ihr Biker jeglicher Couleur: Jeder nach seiner Fasson, leben und leben lassen. Deshalb ist es sehr wichtig, für Respekt und Verständnis zu sorgen, um Konflikte innerhalb einer Gruppe zu vermeiden, deren Mitglieder eigentlich das Gleiche wollen. Man sagt, der größte Feind des Menschen sei der Mensch selbst. Und das gilt auch für den Biker, der – angekommen im Mainstream – mittlerweile in kaum eine klare Kategorie zu stecken ist. Für alle Puristen, die bereits seit der Geburtsstunde des Mountainbikes dabei sind und die Entstehung der Szene miterlebt haben, können die neuen MTB-Massen bedrohlich wirken. Da werden schnell Vorurteile gefällt:

  • „Ich fahre schon viel länger Mountainbike als ihr – verpisst euch hier!“
  • „All the gear, no idea – lernt erst mal fahren, bevor ihr hier auf den Trails einen auf dicke Hose macht!“
  • „Die ganzen Biker hier machen die Trails kaputt“, sprach er und trat selbst in die Pedale.

Ja, es kommt immer wieder zu Wegestreitigkeiten und Konflikten mit anderen Wegenutzern: Egal ob unter Bikern selbst oder zwischen Wanderern, Reitern und Bikern. Dass jedoch nicht die Tätigkeit ausschlaggebend ist, sondern fehlende Akzeptanz, fehlende Regeln, fehlendes Verständnis und fehlende Ausweich- bzw. Nutzungsmöglichkeiten, wird dabei allzu häufig vergessen. Hinzu kommt das sture Verhalten vereinzelter Personen auf allen Seiten. Statt zur Kommunikation kommt es dann meist nur zur Konfrontation. Denn festgefahren in dem eigenen Vorurteil und getrieben von der Angst, irgendwie seinen heiligen Rückzugsort zu verlieren, kollabiert unsere Fähigkeit, differenziert zu denken und das Gegenüber zu respektieren, geschweige denn es zu verstehen. Würden wir das ernsthaft versuchen, dann würden wir schnell merken, dass wir alle im Kern dasselbe suchen, egal ob Reiter, Surfer, Gucci-Party-Animals oder Patagonia-Tiefschnee-Tourer.

Surfen oder streiten? Wenn Extremsportler zu extrem werden

Jeden Tag entscheiden wir mit unserem Handeln, was die Bike-Szene ausmacht. Wir alle machen die Bike-Szene zu dem, was sie ist. Wir haben es in der Hand, ob wir sie bereichern oder ihren Community-Spirit zerstören. Surfen ist eine der coolsten Sportarten auf diesem Planeten. Aber lasst uns bitte nicht die gleichen Fehler wie die Surf-Szene machen! Jeder, der sich an einem angesagten Spot schon mal ins Wasser getraut hat, weiß, dass sich darin meist zu viele Alphamännchen auf einmal tummeln. Man versucht, sich gegenseitig die Wellen streitig zu machen, gönnt anderen keine Welle und duldet keine „Fremden“. Und erst recht keine Anfänger! Egoistisch, intolerant und protektionistisch wird um Surfspots gekämpft – häufig sogar mit nackten Fäusten. Den meisten Leuten ist zwar klar, dass das Hollywood-Image von Baywatchs Kelly Slater aka Jimmy Slade oder die Instagram-Welt vom surfenden Öko-Hippie nicht die ganze Realität des Sports abbilden. Das heißt aber nicht, dass sie sich vorstellen können, welche Ausmaße Hedonismus, Sexismus und Gewaltverherrlichung beim Surfen mitunter einnehmen können. Am krassesten zeigte sich das bei Gruppierungen wie dem hawaiianischen Wolfpak oder den australischen Bra Boys.

Never forget: Solange wir leben, sind wir Anfänger!

Jeder von uns war mal Anfänger. Jeder von uns hat als Kleinkind in die Hosen geschissen. Jeder von uns ist mal auf Trails rumgekrochen. Jeder von uns sah schon mal scheiße aus. Und jeder von uns hat sich schon mal danebenbenommen. Jeder von uns, der sich weiterentwickeln und im wahrsten Sinne des Wortes leben will, fängt jeden Tag wieder an, sich mit neuen Dingen und Begegnungen auseinanderzusetzen. Nur wer im Autopiloten unterwegs ist, schließt das Neue aus seinem Leben aus und verharrt am exakt gleichen Punkt. Deshalb: Statt aufeinander loszugehen, geht aufeinander zu! Erklärt, hört einander richtig zu, diskutiert.

„Ich sehe ein enormes Potenzial für Mountainbike-Destinationen, neue Gäste zu gewinnen. Dazu sollten sie sich aber endlich auf einen breiteren Markt fokussieren. Familien und Kinder benötigen eine sichere, spaßige und zugängliche Infrastruktur. Der Großteil der Biker:innen hat einen Fokus auf Trailtouren, d.h. der Lift muss kein elementarer Bestandteil einer Bike Destination sein. Er ist ein nettes Add-On für Gravity-Segmente, aber für Einsteiger und Familien sind Angebote mit einer Höhenmeterdifferenz von 100 – 200 hm wesentlich zielführender. Regionen wie die Trysil Bike Arena in Norwegen haben dadurch eine ganz neue Generation an Biker:innen geschaffen, sie haben den Einstieg erleichtert und Biken dort zum Breitensport gemacht. Das brauchen wir im DACH-Raum ebenfalls!“ Norman Bielig, Desire Lines

Statt über die „Assis“, „Anfänger“ oder „Rowdies“ zu fluchen, sollten wir den Dialog suchen, Meinungen und Perspektiven austauschen und für Verständnis sorgen. Statt Fronten verhärten zu lassen, müssen wir sie aufweichen. Und das geht nicht, indem wir Leute vorverurteilen oder apostolisch zu bekehren versuchen. Denn das macht sie meist nur sturer. Auch auf den Trails gilt: Wenn du nichts Nettes zu sagen weißt, dann sag einfach besser mal nichts!

Foto: Rudi Wyhlidal/Ötztal Tourismus
Foto: Andreas Putz

Whistler macht es vor – Die großen Chancen der künstlich angelegten Erlebnisparks

Wenn wir also nicht die gleichen Fehler machen wollen wie die Surfszene, dann sind ein verständnisvolles Miteinander und gegenseitiger Respekt die halbe Miete. Der andere Teil ist, eine sichere Umgebung für alle Biker zu schaffen. Wer mit dem Skifahren beginnt, macht fast schon zwangsläufig einen Skikurs. Professionelle Hilfe erleichtert insbesondere den Anfang, hilft Risiken zu reduzieren und schneller Fortschritte zu machen. Und genau hier kommen die künstlich angelegten Parks aller Art ins Spiel: Trailcenter, Skillsparks, Flowtrails und Pumptracks können nicht nur verdammt viel Spaß machen, sondern bieten vor allem eine sichere Umgebung, um seine eigenen Fähigkeiten spielerisch zu verbessern und die eigenen Grenzen zu pushen. Nicht zuletzt profitiert unser Nachwuchs enorm von Spielplätzen dieser Art und erhält eine unwiderstehliche Alternative zu iPhone, Nintendo und Fernseher.

Beim Gedanken an Whistler denkt jeder an krasse Jumps, North-Shore-Trails und waghalsige Lines im Braunbären-Territorium. Doch faktisch gibt es ein riesiges Angebot an Strecken, die so gut gebaut sind, dass Anfänger und Profis gleichermaßen Spaß haben und sich weiterentwickeln können. Besagte Parks helfen, die Massen und Einsteiger zu kanalisieren und ihnen eine sichere(re) Umgebung zu bieten. Von heroisch-riskanten Abenteuern träumt zwar fast jeder, aber wer Montag morgens um 6.30 Uhr wieder auf der Arbeit sein muss, will Risiken verständlicherweise nicht überreizen. Zudem trennen sich durch solche Parks die Extreme und Gleichgesinnte finden sich – gar nicht mal so schlecht, oder?

Foto: Rudi Wyhlidal/Ötztal Tourismus

From Tension to Extension

Wo Akzeptanz für legale Bike-Strecken herrscht, wächst die Community und damit auch die Lobby gegenüber Politik und Behörden. Der Bike-Boom des letzten Jahres und das rasante Wachstum der Bike-Community hat zu einigen lokalen und regionalen Konflikten geführt. Nicht nur zwischen unterschiedlichen Wegenutzern, sondern auch innerhalb der Bike-Community. Daran zeigt sich: Es braucht dringend neue Lösungsansätze. Für Behörden und Politik bedeutet das eine größere Dialogbereitschaft und lösungsorientiertes Handeln. Für die Bike-Community ist es deshalb wichtiger denn je, sich zu organisieren und Interessen- und Lobbygruppen in Form von Vereinen zu gründen oder bestehenden beizutreten.

Zuletzt zur Sorge des harten Kerns der Szene und der Puristen: Dass man die Secret-Trails der Locals zwar verbieten, aber meist nicht finden wird, liegt in der Natur der Sache. Denn nicht jeder Extremsportler lässt sich domestizieren. Und das ist vielleicht auch gut so – sind die Massen kanalisiert, jucken wir einzelne Freaks auch nicht mehr.

Fazit

Wachstum heißt Veränderung und auch der Bike-Boom fordert Wandel in den Konzepten und Trail-Angeboten. Das Tolle daran: Noch nie war es leichter, Spaß auf zwei Rädern zu haben! Künstlich angelegte Trail- und Funparks für alle Könnerstufen können den Nutzerdruck auf den Trails kanalisieren und Unfälle bei Anfängern reduzieren. Mit der richtigen Portion Respekt, Rücksicht und Fairness kann jeder von uns die Community bereichern. Denn am Ende kommt es nicht drauf an, wie und wo man fährt, sondern wie man miteinander umgeht und wie viel Spaß man hat!


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Text: Andreas Toepfer, Robin Schmitt Fotos: Daniel Geiger, Christoph Bayer, Andreas Putz, Valentin Rühl, Robin Schmitt, Andreas Toepfer, Villach/Martin Hofmann, Ötztal Tourismus, CENTURION Bikes, Wavegarden Alaïa Bay