Ein Ort, wo Mulis als Shuttle fungieren und die Trails auf alten Berberstraßen verlaufen: Ross war unterwegs in Marokko und bekommt seitdem die Gastfreundschaft der Menschen, die entlegenen Mondlandschaften und den Ruf des Muezzins nicht mehr aus dem Kopf.

Ich wachte auf durch den Ruf zum Morgengebet, der von den Bergen widerhallte, taumelte zum Fenster und blickte hinaus, wo die Welt sich langsam zu bewegen begann. Ich war in Marokko und gerade dabei, eine Menge Vorurteile abzulegen. Die Sonne malte die Gipfel orange, von den Hütten darunter stieg der Rauch auf in die klare Morgenluft und plötzlich war alles wieder ganz still. So sehr uns Marrakesch mit seinem Gedränge und Gewimmel und seiner uralten Kultur in den Bann gezogen hatte – das hier, mitten im Hohen Atlas, 65 km südlich von Marrakesch, das war der Teil von Marokko, wegen dem wir hergekommen waren. Meine Reisegefährten waren Eric Porter und Euan Wilson, beide keine unbeschriebenen Blätter, wenn es um Abenteuer in unbekannten Gefilden ging. In Marokko waren sie aber noch nie und so war es gut, dass uns der einheimische Guide Lahcen zur Seite stand, der bald unser Freund werden sollte und die entlegenen Strecken im Atlasgebirge kannte wie seine Westentasche.

Auf den Straßen von „Downtown“-Imlil wichen wir herumstreunenden Hühnern und Katzen aus und begegneten den Einheimischen bei ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen. Am Stadtrand trafen wir auf einige junge Männer und ihre gelangweilt dreinblickenden Maultiere, denen wir links und rechts unsere Bikes aufschnallten. Durch den aufgewirbelten Staub blickten ihnen nach, wie sie ihren mühsamen Marsch bergauf begannen. Die Berber, marokkanische Nomaden, nutzen die Mulis als Transportmittel für sich und ihr Hab und Gut, doch sie eignen sich genauso für Mountainbikes. Als wir zu Fuß oben ankamen, hatten die Mulis unsere Bikes bereits abgeliefert und waren zusammen mit ihren Besitzern auf dem Weg zurück Richtung Imlil.

Von der Höhe des Passes hatte man einen perfekten Überblick über den Trail, der sich wie eine superfeine Narbe über imposante Grate und Halden voll grobem Geröll zog. Auf dem schmalen Berberpfad, den Hufe und Füße einst in den Berg geschnitten haben, versuchten wir – so gut es ging – den bodenlosen Abgrund zu unserer Rechten zu vergessen. Wir eierten über feuerrote Steinbrocken, die plötzlich unter unseren Laufrädern auftauchten, und dann veränderte sich der Trail, der Boden nahm einen silbrigen Glanz an und wurde griffig und rutschig zugleich. Das Gefälle nahm zu und die Umgebung sah immer weniger nach Mondlandschaft aus, wurde immer satter und grüner. Der Trail war nun weniger exponiert und wir konnten unsere Aufmerksamkeit langsam von „Überleben“ auf „Spaß“ verlagern. Unter den wachsamen Augen dreier einheimischer Jugendlicher hüpften wir eine Steintreppe hinab und gelangten zu einer Berghütte. Lahcen plauderte mit dem Besitzer und nur Sekunden später wurde uns aus großer Höhe heißer Minztee eingegossen. Das Zeug ist quasi Raketentreibstoff, es enthält so viel Zucker, dass man förmlich spüren kann, wie es einem den Schmelz von den Zähnen zieht. Verdammt lecker ist es allerdings auch.

Wir brauchten nicht lange, um zu begreifen, wie warmherzig, gastfreundlich und großzügig die Locals hier sind.

Durch terrassenförmig angelegte Felder gelangten wir auf einen „urbanen“ Singletrail, noch technischer als alles davor, der uns durch ein Bergdorf führte. Die Dorfbewohner beäugten uns neugierig und schnell folgte uns eine Prozession von Kindern durch die engen Gassen, als wären wir Spitzenfahrer bei der Tour de France. Das Gegenteil war der Fall, und außerdem wurde unser Pfad durch Straßenbauarbeiten blockiert – im Wortsinne: Hier wurde eine Straße gebaut. Dieser unzugängliche Teil Marokkos würde nicht mehr lange unzugänglich bleiben … „Schade“, war mein erster Gedanke, aber andererseits: Warum sollten die Leute hier nicht auf die gleiche Infrastruktur – oder zumindest einen Teil davon – zugreifen können wie so viele andere auch? Schließlich liegt es in der Natur des Menschen, sich weiterzuentwickeln und sich an eine ständig wandelnde Welt anzupassen. In solcherlei Gedanken versunken erreichten wir schließlich die etwas befestigtere Zivilisation von Ouirgane, wo wir übernachten wollten.

Am nächsten Morgen radelten wir halb verschlafen von unserer Unterkunft los und rollten direkt in einen von Mutter Natur geschaffenen Spielplatz aus roter Erde. Eric war sofort im siebten Himmel und nutzte die glatten Kanten nach Herzenslust zum Abspringen. Als wir über den Damm eines Stausees fuhren, begannen Grüntöne das Rot und Orange zu ersetzen und wir fanden uns in einer erstaunlich fruchtbaren Umgebung wieder – so hatte ich mir Marokko gar nicht vorgestellt. Wir hoben unsere Bikes durch die engen Spalten zwischen den Mauern, die mit scharfkantigen Metallspitzen besetzt waren, um Tiere fernzuhalten. Gegen Mountainbikes wirkten sie natürlich auch. Nach einem einstimmigen Beschluss, den 1.000-Höhenmeter-Anstieg hochzushutteln, luden wir die Bikes auf unser in die Jahre gekommenes Support-Fahrzeug. Dreißig Minuten später passierten wir eine auseinandergezogene Gruppe von Mountainbikern, denen das Leiden bei jedem Tritt in die Pedale in die Gesichter geschrieben stand.

Als wir sie überholten, fühlte ich mich beinahe schlecht – für ganze 5 Sekunden. Der Truck rang am steilen Hang um Grip und rüttelte uns und unsere Bikes ordentlich durch. Als ich kurz vorm Einnicken war, öffnete sich die Seitentür und das Sonnenlicht ergoss sich ins Innere des Fahrzeugs.

Auf dieser Höhe waren wir wieder in alpinem Gelände und konnten kaum erwarten, wieder nach unten zu kommen. Wir pedalierten auf die imposanten Gipfel zu, heizten über einen staubigen Singletrail, der bergab und bergauf durch die Terrassenfelder führte. Wir kamen zu einem ziemlich verfallenen Bauernhof, vor dem zwei Schäfer saßen und sich ihr Mittagessen schmecken ließen. Sofort verwickelten sie Lahcen in ein freundliches Gespräch und boten uns Brot und Tee an. Lächelnd und winkend fuhren wir danach wieder los und trafen auf wundervoll geschwungene Kurven, die merkwürdig fehl am Platz wirkten – so, als habe sie jemand gebaut, der dabei an zwei Laufräder dachte, nicht an eine schlichte Verbindung von A nach B. Unser Ziel für den Abend kam in Sicht; eine Handvoll Häuser, die sich inmitten der Hügel um eine Moschee drängten. Es war ein sehr befriedigendes Gefühl, auf der Karte eine Route zu ziehen, die uns auf den Spuren der nomadischen Berber von einem Punkt zum nächsten führte, jede Nacht an einen neuen Ort. Schnell waren wir wieder in einem Labyrinth aus engen Gassen, und schließlich wurden wir in einen von Mauern umgebenen Garten geführt. Orangen hingen an den Zweigen, farbenfrohe Überwürfe schmückten sämtliche Oberflächen, in den Tajine-Töpfen auf den glühenden Kohlen brodelte es vor sich hin. Wir konnten wirklich nicht behaupten, dass wir hier in den Bergen ganz abenteuerlich auf jeglichen Komfort verzichteten.

Am nächsten Morgen schallte der Gebetsruf vom Turm der Moschee nebenan; mittlerweile hatte ich mich an den unbestellten Wecker gewöhnt. Anscheinend hatten alle den gleichen Gedanken gehabt wie ich und so beugten wir uns schon vor Sonnenaufgang am Frühstückstisch gemeinsam über die Karte und planten unsere Route hinaus aus den Bergen und zurück in die Ebene, die sich Richtung Marrakesch erstreckte. Bald ließen wir die Orange- und Rottöne des Dorfes hinter uns, vor uns lag ein langer Tag im Sattel. Wir erreichten einen Canyon mit gefährlich überhängenden Felsvorsprüngen und es fühlte sich an wie eine Wildwestlandschaft – so halb rechnete ich damit, dass gleich eine Horde berittener Cowboys um die Ecke schießen würde. Wir folgten den Serpentinen durch ein weiteres Dorf, das sich an den Hang zu klammern schien, quälten unsere Beine und unsere Kassetten. Nach und nach löste sich die Straße auf und spuckte uns schließlich aus, direkt in eine Schlucht auf der Marsoberfläche.

Auf den Serpentinen umfuhren wir eine der sich überlappenden Schichten des Hangs nach der anderen, und jedes Mal fühlte es sich an, als würden wir eine Seite in einem Buch umblättern – eine Geschichte voller überraschender Wendungen, die uns immer tiefer in ihren Bann zog. Neben einem knorrigen alten Baum, der sich gen Himmel zu winden schien, hielt ich an. Ich blickte zurück und sah Eric und Euan, die sich in Schlangenlinien über die Flanke hinweg wanden – zwei winzige Punkte in einer endlosen rot-orangenen Weite unter einem babyblauen Himmel. Wie durch Nadelöhre fädelten wir unsere Bikes zwischen zerklüfteten Felsen hindurch und sahen schließlich vor uns ein weiteres, scheinbar gefährlich am Berg hängendes Dorf. Kurz verließen wir die grelle Nachmittagssonne und pedalierten im Schatten unterhalb der Häuser, bevor wir nach links abdrehten und einem ausgetrockneten Flussbett folgten, das uns schließlich wieder zu unserem Support-Fahrzeug führte.

Unsere Reise hatte sich gleichermaßen lang und kurz angefühlt. Es schien Ewigkeiten her, dass wir durch den Trubel der Basare von Marrakesch gestreift waren, doch die Rufe der Händler hallten noch ganz klar in meinen Ohren – und auch den Ruf des Muezzins, der mir anfangs beinahe unheimlich erschienen war, werde ich nie vergessen. Ich verließ Marokko mit dem Gefühl, eine warmherzige, großzügige, gastfreundliche Nation voller kulturellem Reichtum kennengelernt zu haben, auf die man sich am besten einlassen kann, wenn man auf zwei Rädern unterwegs ist.

Mehr Infos zur Tour findet ihr auf: mountainbikeworldwide.com


Dieser Artikel ist aus ENDURO Ausgabe #036

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Text & Fotos: Ross Bell/HI Adventures