Schlicht, funktionell und aufs Wesentliche reduziert. So kann man die Mountainbikes von RAAW kurz beschreiben. Doch steckt viel mehr hinter der Firma aus Kempten. Wir haben mit Gründer Ruben Torenbeek über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von RAAW geplaudert. Und ganz nebenbei einiges über sein neues Leben im Mountainbike-Mekka Squamish erfahren.

Wenn im ENDURO-Office in Stuttgart gerade die ersten Kronkorken ploppen, brüht sich Ruben in Squamish gerade seinen ersten Kaffee auf. 9 Stunden Zeitverschiebung, ein dickes Grinsen durch die Webcam und das Madonna bereits Abfahrts-ready im Hintergrund. Was geht, Ruben?!
Viel hat sich getan, seitdem der kleine Einmann-Betrieb 2016 das Licht der Welt erblickt hat. Zeit für ein kleines Update. Wie wurde aus RAAW Mountain Bikes das, was es heute ist? Was steht aktuell an? Und wie sind die Zukunftspläne? Wir haben einen Blick hinter die Kulissen des inzwischen siebenköpfigen Teams erhascht.

Wer oder was steckt eigentlich hinter RAAW Mountain Bikes?

Wer im Alleingang einfach seine eigene Mountainbike-Firma aus dem Boden stampft, muss sicher etwas verrückt, ein alter Hase im Mountainbike-Business und zudem irgendwo in den Bergen aufgewachsen sein. Stimmt? Jein, denn obwohl Ruben Torenbeek – wie sein Nachname fast vermuten lässt – im holländischen Flachland aufgewachsen ist, startete er bereits mit 12 Jahren mit Cross-Country Mountainbiken, bevor er sich dem Trial und dann auch intensiv Downhill widmete und bei unzähligen iXS-Rennen startete. Okay, so weit, so gut, einen ähnlichen Lebenslauf haben wahrscheinlich viele von euch. Doch wie kam Ruben dazu, RAAW Mountain Bikes zu gründen? Während seines Studiums in Maschinenbau und Produktdesign wurde ihm bewusst, dass er seine Leidenschaft für Mountainbikes mit seinem Beruf verbinden möchte. So absolvierte er verschiedenen Praktika in der Bike-Branche, schrieb seine Bachelorarbeit bei GHOST und startete dort auch direkt als Bike-Ingenieur durch. Ein paar Jahre später wechselte er zu SCOTT, doch schon bald wurde klar: Er möchte lieber sein eigenes Ding machen, um seine ganz persönlichen Ansätze zum Thema Mountainbiken umsetzen zu können. Klar, ein bisschen Mut gehört dazu, wenn man sich dann entschließt, im Alleingang seine eigene Bike-Marke zu gründen. Aber genau das tat Ruben und der Rest ist Geschichte: 2016 gründete Ruben die Firma mit Sitz in Kempten im Allgäu und steuerte die Geschicke der kleinen Marke lange alleine. Inzwischen arbeitet er mit einem kleinen Team aus insgesamt 7 Angestellten zusammen, die im Customer Support, Marketing und Produktmanagement, aber auch bei der Produktentwicklung unterstützen. Und die Koordination? Die erfolgt durch Ruben aus seiner Wahlheimat Squamish.

Ein Mountainbike macht für mich aus, dass es auf den ersten Blick einfach ein paar zusammengeschweißte Rohre sind – wenn man sich mehr damit beschäftigt, merkt man aber, wie viel mehr dahintersteckt.

Die Rolle, die eine Innovation an einem einzelnen Bauteil für das Bike spielt, wird überschätzt. Viel wichtiger ist das Gesamtkonzept und dass es für die entsprechende Zielgruppe passt.“

Wofür steht RAAW?

Aber was verkörpert RAAW jetzt genau? Und woher kommt der Hype um ihre Mountainbikes? Fangen wir ganz vorne an: Das erste Bike der kleinen Schmiede erblickte bereits ein Jahr nach Gründung der Marke das Licht der Welt: das Madonna V1. Dabei hat Ruben quasi ein Bike für sich selbst entworfen und darauf gehofft, dass genug Biker auf die gleichen Dinge Wert legen. Und die gibt es eindeutig, wie sich heute zeigt. Die Vermarktung war somit glasklar: einfach so kommunizieren, wie er es selbst am ansprechendsten findet. Aber wie schaffte es Ruben, mit seinem Einmann-Betrieb ein komplettes Mountainbike zu entwerfen? Und zudem eines, das so gut funktioniert? Fehlt da nicht das Zusammenstecken verschiedener Köpfe, um coole, innovative Lösungen zu finden und den gesamten Prozess zu bewerkstelligen? Ganz im Gegenteil: Für Ruben ist die kleine Größe von RAAW eher ein Vorteil. Denn das macht es möglich, den kompletten Prozess um ein Bike herum im Blick zu haben, um so ein stimmiges Gesamtkonzept zu entwickeln, vermarkten und an die Frau oder den Mann zu bringen. Das sei deutlich wichtiger, als einzelne Innovationen an einzelnen Parts des Bikes. Denn das Fahrrad ist für ihn ein „Tool“, das man als etwas Komplettes spürt und eben auch so entwickeln muss. Oft liest man oder hört man von Leuten, dass sie ein Bike haben wollen mit genau diesem Lenkwinkel und genau dieser Kettenstrebenlänge, um Fahrcharakteristika zu bekommen, die sie für gut befinden. Für Ruben ist das Quatsch. Denn diese Werte tragen zwar ihren Teil zum Handling bei, seien aber nicht alles, was zählt. Für ihn sind die richtige Kombination und ein stimmiges Gesamtpaket der Key-Faktor. Und apropos Kettenstreben: Diese wachsen an RAAW-Mountainbikes je nach Größe selbstverständlich mit. Denn für Ruben ist die Balance auf dem Bike das A und O.

Einen weiteren großen Fokus legt RAAW auf die Funktionalität. Dafür wird auch gerne auf eine große Farbpalette und viel Bling Bling verzichtet. Auf den ersten Blick sind die Bikes von RAAW dadurch erstmal unspektakulär: minimales Branding, schlichte Linien, keine krassen Features oder Gadgets, die sich cool vermarkten lassen. Aber sie besitzen einige Eigenschaften, die den Charakter der Bikes ausmachen und für Ruben wichtig sind, wie groß dimensionierte Lager, zusätzliche Dichtungen oder außenverlegte Züge. Laut Ruben werden in der Bikeindustrie viele Produkte mit Technologie vollgestopft – einfach, weil man es kann, egal wie groß der Mehrwert für den Fahrer im Endeffekt ist. Um mit RAAW ein klares Zeichen in eine ganz andere Richtung zu setzen, hat er seine Bikes ohne viel Schnickschnack entwickelt. Genau aus diesem Grund riet ihm ein Freund, seine Marke RAW zu nennen. Da das allerdings zu Unmut bei einer Modemarke geführt hatte, entschied sich Ruben zwei Wochen vor dem Launch der Bikes dazu, einfach ein zweites A einzufügen. RAAW war geboren.

Was passiert aktuell bei RAAW?

Ruben hat sich dieses Jahr einen persönlichen Traum erfüllt – der wahrscheinlich dem Traum fast jeden Mountainbikers gleichkommt – und lebt aktuell im Mountainbike-Paradies Squamish in Kanada. Nach 6 Jahren Vollgas mit RAAW war das für ihn – abgesehen von den irre guten Trails dort – auch ein willkommener Tapetenwechsel. Sein Plan ist es, zwei bis drei Jahre dort zu bleiben und dabei eine Infrastruktur aufzubauen. Kein Biker möchte lange warten, wenn an seinem Bike das Schaltauge oder Lager gewechselt werden müssen. Deshalb plant Ruben, zusätzlich zum Lager in Kempten zumindest ein Ersatzteillager in Kanada einzurichten. Klar, dafür müssen die Leute in Nordamerika die Marke natürlich erstmal kennen. Rubens überraschende Erkenntnis: Bikeshops haben dort einen komplett anderen Stellenwert als in Europa. Statt einfach nur E-Bikes und Trekking-Bikes an weniger versierte Radler zu verkaufen, sind die Shops eine Quelle von massenweise Ersatzteilen und enormem Know-how. Und zudem sozialer Treffpunkt, wo sich viele Biker nach Trail-Laps auf ein Kaltgetränk treffen – und in Zukunft vielleicht auch um das ein oder andere RAAW-Mountainbike im Schaufenster schlendern …

In Deutschland ist RAAW – zumindest in der Core-Szene – inzwischen ziemlich bekannt. Hier [in Nordamerika] haben vier von fünf Leuten noch nie von der Marke gehört. Das ist spannend, denn es zeigt, wie viel Potenzial hier noch steckt.

Aber die eigentlich großen Neuigkeiten sind, dass RAAW ab diesem Jahr ins Renngeschehen einsteigt. Sie unterstützen das RAAW // LEVELNINE Gravity Team bei der Enduro World Series und das 555 RAAW Gravity Racing Team beim UCI Downhill Worldcup. Warum sie sich dazu entschieden haben? „Weil Rennen fahren Bock macht“, erklärt uns Ruben. Zudem sei das Madonna dank seiner Praktikabilität und Funktionalität ein gutes Enduro-Renn-Bike – auch wenn das nicht der ursprüngliche Plan beim Design war. Das neue DH-Bike wurde hingegen speziell als Race-Bike entworfen. In den letzten Jahren waren die Ressourcen dafür leider noch nicht vorhanden, aber dafür steigt RAAW jetzt mit Vollgas in beiden Disziplinen ein. Wir sind gespannt und wünschen den Teams beim Rennen viel Erfolg!

Was bringt die Zukunft für RAAW?

Zunächst einmal vorneweg: Das RAAW-Portfolio wird sich in nächster Zeit nicht stark ändern. Stattdessen ist der Plan, die aktuellen Modelle weiterzuentwickeln.

Können wir mit einem E-Mountainbike rechnen?

Ein E-Mountainbike von RAAW? Für Ruben ist das schlicht kein interessantes Produkt, da es die Einfachheit eines Mountainbikes etwas zerstört. Deshalb ist auch nichts in diese Richtung geplant. Außerdem müsste RAAW stark wachsen, um mit der höheren Komplexität eines E-Bikes umgehen zu können, und auch das ist nicht geplant.

Wird es RAAW Rennräder oder Gravel-Bikes geben?

Die Firma heißt ja nicht ohne Grund RAAW Mountain Bikes. Der Name ist bewusst gewählt und zeigt, wo der Fokus der Marke liegt. Die Expansion in Richtung Gravel oder Rennrad ist also nicht vorgesehen. Das möchte Ruben lieber anderen Herstellern überlassen.

Wird es Carbon-Bikes geben?

Auch ein Carbon-Bike ist nicht geplant, da für Ruben die Vorteile von Alu in den Punkten Nachhaltigkeit und Fahrperformance zu groß sind. Zudem passt der Charakter von Alu-Bikes besser zur Philosophie von RAAW. Ganz abgeneigt ist er jedoch nicht – wenn, dann aber für ein verspieltes, leichtes Trail-Bike und nicht für ein Enduro-Baller-Bike.

Und was hält Ruben von High-Pivot-Bikes?

RAAW war noch nie bekannt dafür, bei Trends schnell mitzuziehen. So ist es auch beim aktuellen High-Pivot-Hype. Für Ruben ist der hohe Drehpunkt eine einzelne Entscheidung, die dann aber den Spielraum für die Gestaltung des restlichen Bikes stark einschränkt. Was bringt einem die feine Einstellung von Anti-Squat und Pedalrückschlag oder die nach hinten ausweichende Radkurve, wenn sich dadurch die Balance – ihr erinnert euch?? … das A und O eines Mountainbikes – im Verlauf des Federwegs durch die Längung des Rear-Centers ändert? Zusätzlich muss die Steifigkeit des langen Hinterbaus stark erhöht werden, um die gleiche Stabilität zu erreichen. Aus diesem Grund möchte Ruben bei einem klassischen Viergelenker mit vertikalem Dämpfer bleiben. Für ihn bietet das die beste Basis, um die herum man die gewünschten Eigenschaften des Bikes gestalten kann.

Es wird sich also auf den ersten Blick nicht viel ändern. Das bedeutet aber auch, dass RAAW weiterhin das Gesamtkonzept der Bikes überblicken kann und so seinen Wurzeln treu bleibt.

RAAW verfolgt beim Entwickeln ihrer Bikes einen eigenen Ansatz mit Fokus auf Haltbarkeit und Funktionalität. Mit dieser Philosophie haben sie sich schnell in der Core-Szene einen Namen gemacht und sind in letzter Zeit stark gewachsen. Trotz Wachstum und Expansion nach Nordamerika möchten RAAW jedoch eine kleine Firma bleiben, um weiterhin das Gesamtkonzept der Bikes überblicken zu können. So können sie Mountainbikes entwickeln, die perfekt auf ihre Zielgruppe passen.


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Text: Simon Kohler Fotos: RAAW Mountainbikes, Rob Perry

Über den Autor

Simon Kohler

Simon liebt Geschwindigkeit. Als Downhill Skater ist er lange Zeit Rennen gefahren und mit seinem Longboard Alpenpässe runtergeknallt. Inzwischen hat er vier gegen zwei Reifen eingetauscht und heizt jetzt mit seinem Mountainbike auf Trails und Bikepark Lines. Bei verschiedensten Roadtrips durch die Alpen hat er seither einige der feinsten Trails Europas ausgekostet. Da er einige Zeit in Österreich gelebt hat, kennt er zudem die lokalen Bikeparks wie seine Westentasche. Durch sein Ingenieurstudium und seine Liebe zum Detail ist er ein echter Technik-Nerd und testet jetzt als Redakteur die aktuellsten Bikes und Parts auf Herz und Nieren. Als Frühaufsteher und selbsterklärter Müsli-Connaisseur lebt er sein Leben frei nach dem Motto „Powered by Oats. And also Legs.“