Hello America! | Teil #9 Roanoke – A Diamond in the Rough, Teil 1
In zwei verschiedenen Ländern, 6.600 km von ihrer Heimat entfernt – wir haben zwei Jungs gefunden, die sprichwörtlich ihr Leben getauscht haben: einer in Amerika, der andere in Deutschland. Wie fühlt sich Radfahren in der jeweils neuen Welt an? Wer findet die besten Trails? Wer das beste Bier? Nehmt teil an ihren Geschichten und folgt ihren Abenteuern auf den Trails der neuen Welten.
Die Welt ist verdammt ungerecht, manche leben im Überfluss und andere haben kaum etwas. Beim Biken hat man zwar eher Luxusprobleme – aber manche von uns müssen für gute Trails trotzdem weit fahren, während andere gar nicht wissen, welchen Hammertrail vor ihrer Haustür sie als nächstes nehmen sollen. Eine schreiende Ungerechtigkeit!
Die USA werden gerne als das Paradebeispiel für westliche Dekadenz und ein Leben im absoluten Übermaß angeführt. Stereotype Aussagen wie „the bigger the better“ und „super size me“ sind recht typisch für unsere Wahrnehmung von Nordamerika. Kein Wunder, denn nirgendwo gibt es mehr Millionäre, benzinfressende Autos und übergewichtige Menschen. Eine entfesselte kapitalistische Industrienation ersten Ranges, deren vorrangiges Streben offensichtlich darin besteht, maximale Profite und immer noch mehr Konsumgüter anzuhäufen.
Doch es gibt auch eine andere Seite, die gerne übersehen bzw. oft vernachlässigt wird. Die nordamerikanische Landmasse ist riesig und mit ihr die schier endlosen Naturräume, Nationalparks und Reservate. Die Dimensionen der Küstenlinien, Berge und Wälder sind für einen Europäer wie mich nach wie vor unbegreiflich. Die Wildnis Amerikas ist real und hat nichts mit den gepflegten Wäldern und Naherholungsgebieten zu tun, die ich aus Deutschland kenne. Für viele Amerikaner gibt es daher kaum etwas Besseres, als so viel Freizeit wie möglich „outdoors“ zu verbringen. Das Bekenntnis zum Leben in und mit der Natur hat in den USA eine vollkommen andere Bedeutung, als ich es je bei uns in Deutschland erleben durfte.
Freizeitbeschäftigungen wie Camping, Wandern, Klettern, Kayaking und Mountainbiken liegen daher voll im Trend. Ganze Städte und Gemeinden haben sich mittlerweile diesem Outdoor-Hype oder, besser gesagt, diesem „Way of Life“ verschrieben. Sei es, um neue Arbeitsplätze und Einnahmequellen zu erschaffen oder um noch mehr Gleichgesinnte in die meist ländlichen, vom Aussterben bedrohten Gemeinden zu locken. Mehr Radwege und Campingplätze, expandierende Trailsysteme und zahlreiche Outdoor-Angebote sind das erfreuliche Ergebnis. Und es funktioniert: Immer mehr Enthusiasten entscheiden sich dazu, ihrer Leidenschaft ein perfektes Umfeld zu geben und ziehen bewusst aus den Großstädten in die neuen Outdoor-Boomtowns wie Asheville in North Carolina, Portland in Oregon oder Chattanooga in Tennessee.
Krieg den Arsch hoch, Deutschland!
Vermutlich gehöre ich zu der breiten Masse von Bikern, die sich noch nicht aufraffen konnte, ihren Wohnort dorthin zu verlegen, wo wirklich sensationelle Möglichkeiten fürs Mountainbiken gegeben sind. Die perfekten Voraussetzungen, um mein Bike und mich ans Limit zu bringen, habe ich weder in Washington, D.C. gefunden, noch hatte ich sie in Deutschland. Dabei wäre es so wichtig, zumindest einen anspruchsvollen Hometrail zu haben: Denn man wächst bekanntlich an der Herausforderung und das Leben ist verdammt kurz. Man sollte seine Träume vielleicht nicht allzu lange aufschieben.
In Berlin und Stuttgart war ich nie zufrieden: Die Trails waren entweder zu kurz oder zu langweilig und nur selten waren sie für Biker, sondern fast immer für Wanderer gebaut. Einzig im Schwarzwald, wo ich als 16-Jähriger mit dem Biken angefangen habe, gab es krasse Trails – aber dank überholter Gesetze in Baden-Württemberg sind die leider auch illegal! Nicht, dass uns das abgehalten hätte, aber Deutschland ist Bikern gegenüber generell ablehnend eingestellt. Man fühlt sich unerwünscht, wird als rücksichtsloser Umweltrüpel gebrandmarkt und häufig offen diskriminiert. Statt uns gleichzustellen mit anderen Naturliebhabern, einen legitimen Freiraum für Mountainbiker zu schaffen, wo wir unserem „Way of Life“ ohne Konflikte nachgehen können, werden wir abgestempelt, von der Politik weitgehend ignoriert und von Lobbygruppen systematisch blockiert.
Deutschland verpennt im großen Stil einen globalen, seit Jahren stetig wachsenden Outdoor- und Freizeittrend. Dabei sind Mountainbiker meist umweltbewusst, kaufkräftig und eine ernstzunehmende touristische Einnahmequelle! Als klar war, dass ich in die USA auswandern würde, war dies mit Sicherheit der Aspekt meiner Heimat, dem ich keine Träne nachweinen würde. Ich hatte die Schnauze voll von dem typisch deutschem Paragraphengeplänkel, der verlogenen Scheinheiligkeit und der endlosen Diskussion mit Förstern, Jägern und Wandervereinen. Ich freute mich, auf Trails zu fahren, die für Mountainbiker zugelassen waren und noch dazu von versierten Trailbuildern gebaut wurden. Amerika erschien mir wie das goldene Eldorado für Mountainbike-Junkies, nach dem ich immer gesucht hatte.
Roanoke – „Wild life at its best“
Aber auch in den USA ist nicht alles Gold, was glänzt. Wer meine Geschichten verfolgt, weiß, wie schwer es für mich war, in meiner neuen Heimat Fuß zu fassen und die ersten guten Trailkilometer einzufahren. D.C. ist eine große Stadt, Höhenmeter sind selten, zudem kannte ich nichts und niemanden. Ideale Bedingungen für Mountainbiker sehen sicherlich anders aus. Neue Trails auszukundschaften war und ist daher eine meiner liebsten Beschäftigungen. Ehrlich gesagt suche ich gleichzeitig auch nach einem neuen Wohnort für uns, denn mein lang gehegter Traum soll irgendwann in Erfüllung gehen: Ich will endlich das Bike aus der Garage holen, den Wald in Sichtweite haben und ein paar Minuten später auf einem guten Trail fahren. Zu viel verlangt? In Deutschland durchaus schwierig, nicht aber in den USA.
Als wir dieses Frühjahr ins südwestliche Eck von Virginia fuhren, wusste ich kaum etwas übers Biken an der East Coast und schon gar nichts über Roanoke. Der eigentliche Grund war ein Grassroots Enduro-Race der lokalen Blue Ridge Gravity Crew. Rennen bin ich bisher kaum gefahren, schon gar keine Enduros. Warum also plötzlich in den USA? Weil es hier unkompliziert ist, einem in der Regel beste Trails serviert werden und man leicht neue Fahrer kennenlernt, die einem weitere Spots verraten. Keep it simple! Anmeldung über Facebook, keine Lizenz, keine Gebühr, improvisiertes Timing. Das Starterfeld: die Local Ripper der Region.
Der vierte Lauf des D-Cups auf dem Gauntlet Trail lief super für mich und war genau das, was man sich unter einem „Funrace“ so vorstellt. Shredden mit anderen Trailbuddys, kein Konkurrenzdruck, extrem entspannt und ein kaltes Bier im Ziel. Meine Strategie ging voll auf: Ich lernte einige Locals kennen, die ich heute bereits zu meinen Freunden zählen darf. Wir blieben noch volle zehn Tage, die meine Frau und ich mitten im Jefferson National Forest und jeden Tag auf den Trails verbrachten. Einer jener Biketrips, die man nicht vergisst: Hütte am Fluss, kein Handy-Empfang, kein Stress, dafür beste Singletracks und eine Menge interessanter Leute – wild life at its best.
Traumspot im Dornröschenschlaf
Zurück in Washington, D.C., ging mir Roanoke nicht mehr aus dem Kopf. Die Locals hatten mir von anderen Trailnetzwerken und endlosen Back-Country-Trails rund um die 100.000 Einwohner zählende Stadt erzählt. Ich hatte gerade mal die Spitze des Eisbergs gesehen und das war bereits mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Roanoke war ganz offensichtlich einer dieser Bike-Spots, wo man sich nie sicher ist, was man zuerst fahren soll. Da ist es wieder, das Luxusproblem: Trails im Überfluss. Eine absolute Ungerechtigkeit, bedenkt man, wo ich herkomme bzw. wo ich derzeit lebe.
Damit war auch die Idee geboren, mehr über Roanokes ausufernde Trails zu berichten und über die zahllosen Freiwilligen, die sie mit viel Aufwand bauen. Denn für mich ist Roanokes gezielte Entwicklung hin zu einem Hotspot für Mountainbiker an der East Coast mehr als beispielhaft. Davon könnte man sich in Deutschland eine Scheibe abschneiden – die deutsche Bikeszene hätte es durchaus verdient! Und selbst für viele Amerikaner ist das Bikerevier noch weitgehend unbekannt. Denn nur wenige wissen, welch ein grandioser Schatz in den Blue Ridge Mountains schlummert.
Alte Seilschaften und neue Chancen
Das Problem war nur, dass ich keinen Plan hatte, wem oder wo ich konkret von Roanoke erzählen sollte. Ich hatte noch nie für ein Magazin gearbeitet und auch kaum Kontakte zu Bikemedien. Aber der Trip in den Süden Virginias hatte mich tief beeindruckt und meine negativen Erfahrungen aus Deutschland waren noch präsent. Der Gegensatz war meines Erachtens zu krass, um zu schweigen. Es geht auch anders! Solange ich in Deutschland gelebt hatte, war mir das nie so aufgefallen.
Manchmal muss man wagemutig sein: „Tu es einfach“, dachte ich mir und schickte Robin vom ENDURO Mountainbike Magazine eine kurze Mail. Wenig später kam die Antwort: „Ja, Roanoke und East Coast Riding hört sich interessant an!“ Wir kannten uns nur flüchtig, aber kommen beide aus Stuttgart, Germany. Ich war schon immer von dem innovativen Magazin fasziniert, liebe mein fettes Endurobike und fahre Trails hart an meinem Limit, seit ich denken kann. Biken ist immer geil, aber vor allem bergab. Das ist vielleicht der gemeinsame Nenner, der uns zusammenbringt.
Ich bot Robin an, Roanokes Trailszene zu beleuchten, konnte aber keine Fotos bieten. Ohne Bilder würde es nichts werden, also bat ich meinen Freund Max aus Chicago um Hilfe: auch so eine alte Stuttgarter Bike-Connection und ein exzellenter Fotograf noch dazu. Wir hatten bereits die Alpen und die Pfälzer Kalmit unsicher gemacht – just for fun! Diesmal war es anders. Max hatte an diesem Abend vermutlich zu viel Craft-Beer intus oder die Chance gewittert, aus der Trailöde Chicagos für einen spontanen Bike-Trip zu entfliehen. Kurzerhand buchte er einen Flug, ohne auch nur mit mir oder den Jungs in Roanoke zu sprechen … sick, aber in vier Wochen würde er in Dulles Airport, Virginia, ankommen.
Ich stand unter Druck: „Organize epic shit!“ Ich kontaktierte Jameson, den ich bereits beim D-Cup Race als Organisator kennengelernt hatte. Er hatte mir auch die Idee ins Hirn gehämmert, dass man mehr über Roanokes schlafendes Potenzial erzählen müsse. Jetzt war die Chance da! Jameson wurde in den nächsten Wochen zu meiner Liaison, ohne die ich von D.C. aus wenig bewegen konnte. Doch allein war er nicht: Das ENDURO-Projekt bekam Unterstützung von vielen Seiten. Von lokalen Bikeshops, der Stadt und vor allem von Roanokes Bikern – alle wollten mithelfen, ihren Homespot bekannter zu machen. Ich versank in einer Flut von Mails, war platt angesichts des lokalen Engagements. Die besten Trails wurden diskutiert, ein Rider-Event organisiert und Fahrer für die diversen Shootings rekrutiert. Gute Community-Arbeit vom Start weg: Es fing bereits an Spaß zu machen, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.
Lest im zweiten Teil, was Roanoke alles für Biker im Programm hat und warum wir Deutschen endlich anfangen sollten, über ein Miteinander auf dem Trail nachzudenken, als uns andauernd zu bekriegen.
Weitere Infos zu Roanoke: Roanoke Outside
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Text: Steffen Gronegger Bilder: Max Leitner Photography, Steffen Gronegger, AM Photographs (Andrew McElvery)
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