High-Pivot, Mullet, Elektronik am Bike, Carbon oder doch Alu? Zwischen bloßem Trend und realem Vorteil liegt oftmals nur ein schmaler Grat. Wir haben hier die 10 wichtigsten Erkenntnisse aus unserem großen Enduro-Vergleichstest 2022 zusammengefasst – am besten habt sie beim Kauf eures nächsten Enduro-Bikes im Hinterkopf.

Nicht alles ist Gold, was glänzt – das gilt auch für die neueste Generation an Enduro-Bikes. Deshalb haben wir nach unserem großen Vergleichstest einen Strich gezogen und die wichtigsten Erkenntnisse gesammelt, zentrale Trends identifiziert und unsere Schlüsse gezogen. Hier verraten wir euch alles, was ihr über die neuen Enduro-Bikes und ihre Zukunft wissen müsst.

Sind kürzere Kettenstreben besser?

Die Länge der Kettenstreben ist für viele ein wichtiges Indiz für das Handling eines Bikes. Für ein gelungenes Handling kommt es jedoch nicht auf diesen isoliert betrachteten Wert an, sondern auf die stimmige Balance zwischen Hauptrahmen und Hinterbau. Die Kettenstrebenlänge unseres Testsiegers, des SIMPLON Rapcon, verändert sich z. B. analog zur Rahmengröße und liegt bei 443 mm in Größe L. Damit steht sie in einem sehr guten Verhältnis zum Reach (475 mm) des Bikes. Deshalb kann das SIMPLON auch mit einem extrem intuitiven und ausgewogenen Handling auf dem Trail überzeugen und deshalb ist es auch kein Problem, mit ihm spontan die Richtung zu wechseln, blind Trails zu fahren oder einfach nach einem langen Tag sicher und entspannt nach Hause zu kommen. Von einem so intuitiven Handling profitieren Anfänger übrigens genauso wie Profis. Stimmt das Verhältnis zwischen Hauptrahmen und Hinterbau nicht, führt das dazu, dass ihr z. B. mehr über dem Heck hängt – dadurch tiefer im Federweg steht – und die Front aktiver belasten müsst. Deshalb sind eine isolierte Betrachtung der Werte und die Suche nach möglichst kurzen Kettenstreben der falsche Ansatz.

Armpump kommt von der Bremse

Wie wir darauf kommen? Alle Gabeln in unserem Vergleichstest sind absolute Highend-Modelle und 8 der 11 Bikes nutzen sogar die gleiche Federgabel, nämlich die FOX 38 mit GRIP2-Dämpfungskartusche. Wenn das nicht beste Vergleichbarkeit liefert, wissen wir auch nicht weiter! Dennoch waren die Unterschiede in Sachen Armpump massiv, selbst wenn man Komponenten wie Lenker und Laufräder sowie die Hebelposition berücksichtigt. Der Grund dafür: Zu kleine Bremsscheiben überhitzen schnell und sorgen dafür, dass ihr mehr Kraft aufbringen müsst, um die gleiche Bremsleistung zu erreichen. 4 unserer Test-Bikes waren sogar mit 220-mm-Bremsscheiben an der Front bestückt und haben die Arbeit noch einfacher und sensibler gemacht. Weniger Armpump = mehr Spaß auf dem Trail!

Steif, steifer, zu steif?

10 der 11 Bikes im Test haben auf eine steifere FOX 38– oder RockShox ZEB-Federgabel gesetzt. Die jeweils kleinere Schwester davon – also die FOX 36 oder RockShox Lyrik – besitzt jedoch die gleiche Dämpfungskartusche und ein weicheres Casting. Besonders für leichtere Fahrer oder Piloten mit einem weniger aggressiven Fahrstil wäre das sogar oft die bessere Lösung. Denn Steifigkeit bringt zwar ein Extra an Präzision, kostet aber zusätzlich Kraft und sollte deshalb immer nur in einem gewissen Maß vorhanden sein und im Verhältnis zu den Kräften stehen, die der Fahrer, sein Lebendgewicht und seine Fahrweise produzieren. Umgekehrt bedeutet das natürlich, dass schwerere und aktive Fahrer von einer steiferen Gabel profitieren. Mehr Informationen über die unterschiedlichen Gabeln findet ihr auch in unserem Federgabel-Vergleichstest.

Partner in Crime: Hinterbau und Dämpfer

Ein Hinterbau ist nur so gut wie der darin verbaute Dämpfer! Und umgekehrt. Beide sind direkt voneinander abhängig und funktionieren nur dann richtig gut, wenn sie richtig aufeinander abgestimmt sind. Aus diesem Grund sind vermeintliche Dämpfer-Upgrades auf ein besseres Modell häufig gar nicht sinnvoll, denn die Abstimmung auf die Hinterbaucharakteristik und der Tune des Dämpfers müssen zu dem Bike passen, in dem der Dämpfer verbaut wird. Der Hinterbau des Santa Cruz Bronson wurde beispielsweise speziell auf den RockShox Super Deluxe-Luftfederdämpfer abgestimmt, deshalb findet der sich auch in fast allen Modellen wieder (lediglich das Einsteiger-Modell kommt mit dem günstigeren FOX FLOAT X-Dämpfer). Ein anderer Dämpfer hat da kaum eine Chance, die gleiche Performance zu liefern – ganz egal wie teuer und prestigeträchtig er auch sein mag.

High-Pivot-Enduro-Bikes sind ein Internet Hype

Verfolgt man die Diskussionen in unzähligen Mountainbike-Foren, bekommt man den Eindruck, dass Bikes mit High-Pivot-Hinterbau die nächste große Revolution sind. Wir können euch aber beruhigen: Sie sind es nicht. Sie funktionieren – wie jedes andere Hinterbaukonzept – manchmal gut und manchmal nicht. Das hängt ganz davon ab, wie sie entwickelt und umgesetzt wurden. Die beiden High-Pivot-Bikes in unserem Vergleichstest haben genau das bewiesen. Das Cannondale Jekyll konnte mit starker Hinterbau-Performance und großer Laufruhe überzeugen, wohingegen das GT Force das Schlusslicht in unserem Test macht. Und einer der großen Gründe dafür war die Performance des Hinterbaus – trotz High-Pivot.

Griffige Reifen und robuste Laufräder sind ihr Gewicht am Enduro-Bike mehr als wert!

Die Wahl der Laufräder und Reifen – und ihre Kombination – spielen eine maßgebliche Rolle auf dem Trail. Alu-Laufräder haben bis auf einige Ausnahmen eine höhere Nachgiebigkeit als Modelle aus Carbon und passen sich dadurch besser den Trail-Beschaffenheiten an. Carbon-Laufräder hingegen übertragen in der Regel Impulse direkter an den Fahrer und setzen Lenkbewegungen gezielter um. Zusätzlich verwinden sie sich weniger in starken Kompressionen wie z. B. Anliegern. Diese direkte und ungefilterte Kraftübertragung kostet allerdings eine höhere Aufmerksamkeit und Kraft, und führt deshalb schneller zu Ermüdungserscheinungen.Mehr Informationen über den Unterschied zwischen Carbon und Alu findet ihr in unserem Mythos Carbon-Artikel.

Es gibt jedoch auch Carbon-Laufräder wie z. B. die Crankbrothers wie die Crankbrothers Synthesis am YT CAPRA. Sie wurden speziell im Hinblick auf die Compliance konstruiert und kommen so eher dem Fahrgefühl eines Alu-Laufradsatzes gleich. Das Problem in unserem Test: Viele Hersteller verbauen pannenanfällige Reifen und Carbon-Laufräder. Kommt es hier zu einem Durchschlag, sind Modelle aus Carbon meist ein Totalschaden, wo man mit Laufrädern aus Alu noch mit einer Delle davonkommt. Deshalb sollten vor allem Carbon-Laufräder mit super robusten Reifen kombiniert werden. Doch auch auf einer Alu-Felge bringen robuste Reifen einen Riesenvorteil, z. B. könnt ihr mit ihnen einen wesentlich niedrigeren Luftdruck bei gleichbleibendem Pannenschutz fahren. So erreicht ihr mehr Traktion auf dem Trail und habt eine zusätzliche Dämpfung für kleine Unebenheiten. Auch das höhere Gewicht, das durch die robusten Reifen entsteht, hat seine Vorteile bei einem Enduro-Bike, das primär bergab funktionieren muss: Eine größere rotierende Masse bringt mit zunehmender Geschwindigkeit zusätzlich Fahrstabilität. Sprich je schneller ihr fahrt, desto laufruhiger wird euer Bike. Geht ihr vor einer Spitzkehre in die Eisen, lässt sich das Bike wieder problemlos bei niedrigen Geschwindigkeiten manövrieren und ums Eck drücken. Das SIMPLON Rapcon hat beispielsweise eine Kombination aus Alu-Laufrädern und robusten Reifen und gehört dennoch zu den agilsten Bikes im Test. Das Pivot Firebird hingegen – welches Carbon-Laufräder und pannenanfällige Karkassen besitzt – erfordert eine extrem aufmerksame Fahrweise und verliert schnell seinen Grip – unter anderem durch den erhöhten Luftdruck, den die Reifen benötigen.

We like to move it, move it – Tiefe Sitzrohre und Dropperposts an Enduro-Bikes

Ein niedriges Sitzrohr ist leider nichts, was sich im Nachhinein bei einem Fahrrad anpassen lässt. Deshalb sollte euch bereits vor dem Kauf bewusst sein, welche Vor- oder Nachteile sich daraus ergeben. Besitzt ein Bike ein im Verhältnis zum Reach niedriges Sitzrohr, bei dem sich die Sattelstütze dennoch vollständig versenken lässt, habt ihr eine höhere Bewegungsfreiheit. Das vermittelt besonders in steilem Terrain eine größere Sicherheit und ihr könnt schnell euer Gewicht über das Hinterrad verlagern. Bei Modellen mit niedrigem Sitzrohr könnt ihr außerdem die passende Bike-Größe anhand der Bike-Länge auswählen. Dadurch habt ihr die Möglichkeit, euer Bike besser an eure individuellen Ansprüche anzupassen. Wichtig: Ohne die passende Variostütze mit möglichst großem Hub bringt euch auch ein kurzes Sitzrohr – zumindest ohne eine manuelle Verstellung – auf dem Trail nichts. Positiv sticht hier erneut das SIMPLON Rapcon heraus. Es hat ein niedriges Sitzrohr sowie eine voll versenkbare Sattelstütze mit 200 mm Hub und ermöglicht so eine sehr hohe Bewegungsfreiheit. Negativ fällt das YT CAPRA auf, dessen Sitzrohr sehr hoch ist. Das schränkt die Bewegungsfreiheit in Kombination mit der verbauten Sattelstütze mit lediglich 170 mm Hub unnötig ein.

Long live Enduro-Bikes – Eine Frage der Haltbarkeit und des Services

Die Qualität, die Haltbarkeit und der Serviceaufwand eines Bikes spielen eine große Rolle beim Kauf – oder sollten es zumindest! Schließlich besitzen die meisten von euch ihr Bike ca. 3 Jahre lang, das hat unsere Leserumfrage ergeben. Zumindest in Sachen robuster Ausstattung hat sich etwas getan und es finden sich Bikes in unserem Test – wie z. B. das Nukeproof Giga –, an deren Ausstattung wir absolut nichts zu meckern haben. Dennoch gibt es viele Bikes in diesem Test, bei denen noch Luft nach oben ist, und wir erhoffen uns in Zukunft mehr Ausstattungen, die dem Einsatzgebiet der Modelle gerecht werden. Jedoch lässt die Qualität der einzelnen Anbauteile dieses Jahr stark zu wünschen übrig. Vor allem die Laufradsätze am GT, Cannondale und Canyon konnten den Belastungen auf dem Trail nicht standhalten und mussten mehrfach nachzentriert werden. Hier zeigt sich: Die Qualität eines Laufrads hängt nicht nur von den einzelnen Komponenten, sondern viel mehr von der Qualität des Laufradbaus ab.

Digitale Analog-Bikes

Die Anzahl leuchtender LEDs an modernen Enduro-Bikes war in diesem Test so hoch wie noch nie. Gleiches gilt für die Anzahl an verbauten Akkus – und wir sprechen nicht von Akkus an E-Mountainbikes. Schuld daran sind unter anderem das neue elektronische RockShox Flight Attendant-Fahrwerk sowie unzählige kabellose SRAM AXS-Komponenten. Doch braucht es all die zusätzliche Technik wirklich? Die Antwort: Jein … Gewisse Bikes wie z. B. das YT CAPRA profitieren stark von einem elektronischen Fahrwerk. Auch eine AXS-Sattelstütze bringt durch ihre schnelle Reaktionszeit Vorteile. Aber sie ist momentan nur mit einem geringen Hub von 170 mm verfügbar und wir würden häufig zu einer längeren und dafür mechanischen Variante greifen. Auch das Laden der Akkus bleibt nicht aus und eine längere Autofahrt kann durch die ständige Erschütterung dafür sorgen, dass eure AXS-Komponenten angehen und die Akkus bei der Ankunft bereits leer sind. Hier hilft nur, die Akkus jedes Mal auszubauen.

Sind Light-E-Mountainbikes die besseren Enduros?

Klar, dass sich das gesamte Testfeld in Sachen Uphill-Performance einem E-Mountainbike wie dem Specialized Kenevo SL – trotz geringer Motorleistung – geschlagen geben muss. Und auch im Downhill bringt das höhere Gewicht eine verbesserte Traktion und Stabilität. Dennoch müssen Light-E-Mountainbikes weiterhin Abstriche in Sachen Agilität machen. Denn sie besitzen eine andere – nicht unbedingt weniger spaßige – Fahrcharakteristik.
Deshalb kommt es stark auf eure individuellen Anforderungen und persönlichen Vorlieben an. Fakt ist: Mehr Laps = mehr Spaß. Und zumindest in dieser Rechnung gewinnen immer Bikes mit Motorunterstützung.


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Text: Peter Walker Fotos: Peter Walker

Über den Autor

Peter Walker

Peter ist nicht nur ein Mann der Worte, sondern auch der Taten. Mit ernsthaften Bike- und Schrauber-Skills, seiner Motocross-Historie, diversen EWS-Teilnahmen und über 150 Bikepark-Tagen in Whistler – ja, der Neid der meisten Biker auf diesem Planeten ist ihm gewiss – ist für Peter kein Bike zu kompliziert und kein Trail zu steil. Gravel und Rennrad kann er übrigens auch! Das für unsere redaktionelle Arbeit wichtige Thema Kaufberatung hat Peter in Vancouvers ältestem Bike-Shop von der Pike auf gelernt und setzt sein Know-how auch im journalistischen Alltag um. Wenn er nicht gerade die Stuttgarter Hometrails auf neuen Test-Bikes unsicher macht, genießt er das Vanlife mit seinem selbst ausgebauten VW T5. Dass er dazu noch ausgebildeter Notfallsanitäter ist, beruhigt seine Kollegen bei riskanten Fahrmanövern. Zum Glück mussten wir Peter bislang nie bei seinem Spitznamen „Sani-Peter“ rufen. Wir klopfen auf Holz, dass es dazu auch nie kommen wird!